Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Beitrag ist uns von GenossInnen zur Erstveröffentlichung zur Verfügung gestellt worden. Wir haben diesen Beitrag sehr gerne in diese radikal-Ausgabe aufgenommen, weil die Geschichte der revolutionären Linken in Brasilien nahezu unbekannt ist. Allenfalls ist der Name Carlos Marighella geläufig und sein „Minihandbuch des Stadtguerilleros“ ein Begriff. Mit diesem Text dürften einige Leerstellen geschlossen werden; wir bedanken uns für diese „Pionierarbeit“.
Die Gründung der PCB
Wir beginnen unseren historischen Überblick mit der Gründung der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCB), der größten und bedeutendsten Organisation der brasilianischen Linken im letzten Jahrhundert. Um dem Anspruch der historischen Korrektheit zu entsprechen, muss gesagt werden, dass die Geschichte der revolutionären Linken in Brasilien nicht an einem bestimmten Zeitpunkt begonnen werden kann. Bereits im 19. Jahrhundert kamen mit Immigranten verschiedener Nationalitäten vor allem Anarchisten italienischer Herkunft in diese “Neue Welt”. Allerdings ist die PCB die erste revolutionäre Organisation, die auf nationaler Ebene auftritt.
Auf Initiative der Kommunistischen Internationale (KI) gründeten 1922 in Rio de Janeiro 9 Delegierte aus verschiedenen Bundesstaaten die PCB. Sie nahmen als Grundlage die 21 von der KI verabschiedeten Bedingungen für den Eintritt in die KI. Sie forcierten damit einen Bruch in der brasilianischen Arbeiterbewegung, in der bis zu diesem Zeitpunkt eine offene Zusammenarbeit zwischen diversen Fraktionen von Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und Kommunisten bestanden hatte. Viele Gründungsmitglieder waren ursprünglich Anarchisten, die von den Entwicklungen in der SU begeistert waren.
Obwohl die PCB in den 20er Jahren wohl nur an die 500 Mitglieder zählte, war sie doch die stärkste revolutionäre Organisation, die es bis dahin in Brasilien gegeben hatte. In den industriellen Zentren an der Küste (Rio, São Paolo, Salvador da Bahia) entwickelte sie sich stetig in Richtung einer Massenorganisation, gründete sogar eine Partei als legale Vorfeldorganisation, den “Bloco Operário Camponês” (Arbeiter-Bauern-Block). Dennoch blieb sie noch weit dahinter zurück, eine landesweite Organisation zu sein, so dass ein klaffendes Missverhältnis zwischen den objektiven Bedingungen und den subjektiven Faktoren, d.h. der personellen Präsenz im gesamten brasilianischen Territorium bestand.
Die PCB war erstmals auf dem 4. Kongress der KI 1922 repräsentiert. Auf dem 5. KI-Kongress 1924 wurde die Schaffung eines eigenen Lateinamerika-Sekretariats beschlossen, das von der argentinischen KP aufgebaut werden sollte. Allerdings erscheint Lateinamerika erst auf dem 6. Kongress 1928 auf der Tagesordnung. In diesem Zeitraum sahen sich die Delegierten der lateinamerikanischen Parteien in die Konflikte innerhalb der europäischen Kommunistischen Bewegung verstrickt. An der Frage der „Bolschewisierung“ zerbrechen mehrere KPs. Bezüglich der lateinamerikanischen Fragen trifft vor allem die Anmerkung des italienischen Delegierten Amadeo Bordiga zu, der ein vehementer Kritiker der „Bolschewisierung“ war: Bordiga warf auf dem 6. KI-Kongress den russischen Kommunisten vor, die Revolution über eine fest definierte organisatorische Formel konzipieren zu wollen. Dabei werden, so Bordiga, die nationalen Gegebenheiten übergangen und die reellen Kräfteverhältnisse nicht korrekt analysiert.
Auf dem 6. Kongress wurde die Situation Lateinamerikas wie folgt analysiert: Die Staaten befinden sich auf einer halb-kolonialen Entwicklungsstufe, sie sind anglo-amerikanische Kolonien; diese Kolonien stellen die Reserve des Imperialismus gegen die SU dar; die Regierungen dieser Staaten sind Marionetten dieses Imperialismus; sie werden also als unterdrückte Nationen verstanden, deren Bevölkerung potentielle Verbündete im Krieg gegen “den Imperialismus” sind; ein Bündnis mit oppositionellen Intellektuellen und dem Bürgertum ist in diesen Ländern anzustreben, da eine national-souveräne (antiimperialistische) bürgerliche Regierung die Vorstufe für den Sozialismus ist.
Das Verhältnis der PCB zur KI war von einem Wechselspiel geprägt. Die KI-Thesen zum anti-kolonialen Kampf fanden in den Berichten der PCB Eingang, aus denen wiederum Analysen und Direktiven der KI zum Kampf in Brasilien resultierten.
Die KI sah Brasilien als ein halb-koloniales Land an. Entsprechend der Beschlüsse und Resolutionen des 2. KI-Kongresses 1920 war in halb-kolonialen Ländern wie Brasilien eine Einheitsfront mit der national-revolutionären Avantgarde des Kleinbürgertums anzustreben. Zudem würden in Brasilien der britische und der amerikanische Imperialismus konkurrieren, wobei der britische stärker und der amerikanische daher eher an den fortschrittlichen Strömungen im Bürgertum interessiert wäre. Zwar wurde Brasilien in den 20er Jahren von der Oligarchie der Großgrundbesitzer regiert, doch war ein von den USA unterstütztes “fortschrittliches” Bürgertum reine Wunschvorstellung der KI und der PCB; sie entsprang dem Konzept, das die KI für die halb-kolonialen Länder entworfen hatte.
Tatsächlich fanden in Brasilien 1910, 1914, 1917, 1922 und 1924 Offiziersrevolten statt. Die PCB und die KI sahen in diesen die Manifestation eines national-revolutionären Kleinbürgertums, des Aufstands der modernen Industriellen gegen die Agrar-Oligarchie.
Hervorzuheben ist hier vor allem die 1924er-Revolte in São Paolo, bei der die aufständischen Kräfte die Stadt militärisch eroberten und besetzten. Ihre Forderungen waren, wie bereits beim 1922er Aufstand in Rio de Janeiro, die Absetzung des unter Notstandgesetzen seit 1922 (bis 1926) regierenden Präsidenten Artur Bernardes. Die Stadt wurde von loyalen Regierungstruppen umstellt und einen Monat lang belagert und bombardiert. Der Vorsitzende der Handelskammer São Paolos, Macedo Soares, versuchte auf eine friedliche Lösung hin zu vermitteln. Die PCB interpretierte dies als eine Solidarisierung von Seiten des industriellen Bürgertums. Dahinter stand aber vielmehr ein Interesse der Großbourgeoisie, die Produktionsmittel zu erhalten und den Ausbeutungsprozess nicht weiter zu behindern.
Unter diesen Vorzeichen wurde Luis Carlos Prestes zum Generalsekretär der PCB ernannt und zur Leitfigur der Volksmassen auserkoren.
Eine Revolution in Brasilien
Prestes hatte sich 1924-28 als abtrünniger national-revolutionärer Offizier mit seiner 2000 Männer starken „Prestes-Kolonne“ einen Namen gemacht. Sie hatten vier Jahre lang einen Guerilla-Krieg gegen die Bernardo-Diktatur geführt, sich kreuz und quer durch das brasilianische Landesinnere geschlagen und auf ihrem Weg alle Gefangenen befreit und alle Grundbücher, in denen das Monopol des Großgrundbesitzes festgeschrieben war, verbrannt.
Die “Coluna Prestes” erntete große Zustimmung im Kleinbürgertum und der Landbevölkerung. Nachdem er die Kolonne 1928 in Bolivien aufgelöst hatte, wurde Prestes von der PCB angesprochen. Er begann sich mit den “Klassikern” zu bilden, benannte als wichtigste Einflüsse Marxens “Das Kapital” und Lenins Schrift “Staat und Revolution”. Von seinen Offiziers-Kameraden der „Coluna Prestes“ entfremdete er sich zusehends durch seine Hinwendung zum Kommunismus und der Aneignung der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Die kleinbürgerlichen Offiziere waren davon abgeschreckt, dass ihre bisherigen zentralen Doktrinen (Familie, Religion und Nationalismus) umgeworfen werden sollten. 1929 ging Prestes ins argentinische Buenas Aires, dem Zentrum der kommunistischen Bewegung in Lateinamerika. Hier wurde er als Galeonsfigur des antiimperialistischen Kampfes hofiert.
Währenddessen liefen seine Offiziere zur “Aliança Liberal” (AL) und Getúlio Vargas über, der 1930 bei den Präsidentschaftswahlen kandidierte. Prestes traf sich mit Vargas und befand, dass dieser die bestehenden Verhältnisse nicht ändern würde, da er den bewaffneten Kampf ablehnte. Prestes hingegen betonte, dass eine antiimperialistische und agrarische Revolution nur über die bewaffnete Auseinandersetzung mit den Regierenden erreicht werden konnte. Damit wies er den Bürgerkrieg als Weg des revolutionären Kampfes. Für ihn bestand eine direkte Kontinuität der Revolten von 1922 und 1924, die er mit einer dritten fortzusetzen gedachte. Vor allem in dieser Hinsicht stimmte er mit der PCB überein, hielt diese aber auf Distanz, gründete stattdessen die LAR (Liga der Revolutionären Aktion) und verschaffte sich Waffen für diese. Die PCB kritisierte dieses Unterfangen, fürchtete sich mit Prestes einen Caudillo einzufangen, der die Revolution den Interessen des Kleinbürgertums unterordnen könnte. Dem kommunistischen Abgeordneten Otavio Brandão zufolge würde in einer Allianz mit Prestes, dieser mit seiner „Coluna“ die verarmten Besitzenden repräsentieren, während die PCB auf das Proletariat ausgerichtet war. Allerdings war die PCB noch längst nicht in der Lage, das gesamte Proletariat zu organisieren und die Vorstellungen über den Einfluss Prestes und seiner Coluna, seit 1928 im Exil, waren reine Illusion. Doch aus Sicht der KI, und somit der PCB, stellte sich die Lage in Brasilien wie in China dar: Prestes wurde mit Chang Kai-Schek verglichen, der BOC wiederholt als brasilianischer Kuomintang betitelt.
Im November 1930 wurden Prestes und die PCB von der AL überholt: Vargas hatte zwar die Präsidentschaftswahlen an Washinton Luis verloren, putschte sich jedoch mit Hilfe des Militärs und der ehemaligen „Coluna“-Offiziere an die Macht. Doch wie Prestes vorhergesagt hatte, änderte sich unter Vargas letztlich nichts, obwohl dieser für seinen Putsch die Bezeichnung “Revolution” beanspruchte. Diese bestand vielmehr darin, dass die republikanische Verfassung von 1871 vollends aufgehoben wurde und Vargas mit einer “provisorischen Verfassung”, die Legislative und Exekutive in der Person des Präsidenten vereinte, als Diktator regierte. 1934 wurde eine neue Verfassung erlassen, die unter anderem das Frauenwahlrecht einführte. Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei der anschließenden Parlamentswahl mit 5,5% noch niedriger als 1930 mit 5,7%, da das Wahlrecht nach wie vor Analphabeten (75%) ausschloß. Diese Periode der „Scheindemokratie“ hielt allerdings nur ein Jahr lang unter Vargas an, der von 1930 bis 1945 an der Macht war.
1931 wurde Prestes von der KI nach Moskau eingeladen. 1933 wurde er in Abwesenheit zum obersten Führer der PCB erklärt, ein Schritt, durch den die Anhänger Prestes (die “Mittelschicht” in der Gestalt des Kleinbürgertums und der verarmten Bourgeoisie) der PCB zugeführt werden sollten. Das Konzept “Klasse gegen Klasse” wurde offiziell dem der „Demokratischen Einheitsfront“ untergeordnet. Im Zuge dieser von der KI angeordneten Entwicklung zur Einheitsfront-Politik wurde die PCB derartig umstrukturiert, dass die Kader der 20er Jahre entmachtet und durch neue ersetzt wurden. Zum Beispiel war der neue Generalsekretär Antonio Maciel Bonfim zum Zeitpunkt seiner Ernennung erst zwei Jahre in der Partei organisiert. Im Zuge der Bolschewisierung war das Exekutiv-Komitee der KI faktisch entmachtet worden; die KI folgte jetzt direkt den Direktiven von Präsidium und Sekretariat, also der Spitze der KPdSU um Stalin.
Von Moskau aus wurde Prestes 1934 in Begleitung Olga Benarios nach Brasilien zurückgeschickt, um für die PCB eine Revolution anzuführen.
Olga Benarios Rolle in der revolutionären Linken Brasiliens
Olga Benario, 1908 als Tochter eines jüdische Anwalts in München geboren, schließt sich 1923 mit 15 Jahren der KPD-Jugend, dem KJVD, an. Ein knappes Jahr später lernt sie Otto Braun kennen, mit seinen 22 Jahren bereits ein erfahrener und anerkannter Kader der KPD, und zieht mit ihm nach Berlin-Neukölln. Olga steigt schnell innerhalb der Neuköllner Rot Front Jugend (RFJ) auf und wird 1926 Polit-Sekretärin des Neuköllner KJVD sowie Sekretärin für Agitation und Propaganda des KJVD Berlins.
Im Oktober desselben Jahres werden sie und Otto Braun verhaftet. Olga kommt bereits nach zwei Monaten frei, doch Otto wird als „SU-Spion“ des Hochverrats angeklagt. In Abstimmung mit der Parteischutz-Abteilung befreien Olga und sechs weitere Aktivisten des KJVD-Neukölln Otto Braun am 11. April 1927 aus dem Landgericht Moabit. Olga Benario und Otto Braun flüchten in die SU. In Moskau wurde die „Vorzeige-Jungkommunistin“ Olga Benario in das Zentralkomitee der Kommunistischen Jugend-Internationale (KJI) gewählt. In ihrer Zeit in Moskau legte sie besonderen Wert darauf, neben ihrer theoretischen Weiterbildung die militärische voranzutreiben. Im Sommer 1934 wird sie von der KI auf eine geheime Mission vorbereitet: Sie soll Luis Carlos Prestes als Personenschützerin sicher nach Brasilien „einschmuggeln“. Auf der ersten Etappe ihrer Reise, einer Kreuzfahrt nach New York, verlieben sich die beiden als Brautpaar auf Hochzeitreise getarnten Kader. Bereits einige Monate später ist sie schwanger.
Olga Benario war nicht die einzige Agentin der KI, mit der Prestes 1934 nach Brasilien kam, um den revolutionären Prozess zu entfachen. Die KI beorderte den nach Shanghai strafversetzten KI-Kader Arthur Ewert, den ebenfalls in Ungnade gefallenen argentinischen KI-Kader Rodolfo Ghioldi, den jungen amerikanischen KI-Agenten Victor Allen Barron, den Belgier Léon Vallé und das deutsche Ehepaar Gruber nach Brasilien. Paul Gruber war dorthin als Sprengstoff-Spezialist geschickt worden. Was die KI und Prestes nicht wussten, war, dass er ein Spitzel der Gestapo war und mit den brasilianischen und amerikanischen Geheimdiensten kooperierte.
Da das Offizierstum in Brasilien die einzige Chance für Bildung und sozialen Aufstieg bot, war das brasilianische Militär von gebildeten Arbeitersöhnen durchsetzt. (Ein Phänomen, was auch heute noch in Lateinamerika weitgehend zutrifft) Seit jeher war demnach das Militär ein fruchtbarer Boden für kommunistische Ideen. Prestes äußerte einmal in einer Rückschau, dass es einfacher war, Soldaten zu rekrutieren als Zivilisten. Mit ihren Zellen innerhalb der Garnisonen wollte die PCB an die Tradition der Offiziersrevolten anknüpfen und den Volksaufstand, die Revolution, die Machteroberung durch einen Militärputsch einleiten.
Um die Bevölkerung auf den Aufstand vorzubereiten, bediente sich die PCB der “Aliança Nacional Libertadora” (ANL – Nationale Befreiungs Allianz), die von Prestes geführt wurde. Aufgrund des Ansehens, das Prestes genoss, sollte die ANL eine breite Verankerung in den Volksmassen erhalten. Die ANL war 1934 von Anhängern der linken Strömung des „Tenentismo/Prestismo“ gegründet worden und hatte Luis Carlos Prestes „in Abwesenheit“ zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Die Zustimmung in der Bevölkerung war groß, täglich traten 3000 neue Mitglieder ein, insgesamt zählte die ANL vermutlich ca. 1 Million eingeschriebene Mitglieder. Prestes Anwesenheit in Brasilien war weiterhin geheim, die KI gaukelte durch Falschmeldungen in der Pravda vor, er sei in Moskau, wo er 1935 in das Exekutiv-Komitee der KI gewählt worden war. Die ANL veröffentlichte mehrere Briefe, die er vorgeblich aus Moskau schrieb. Im entscheidenden Augenblick sollte Prestes in Rio de Janeiro erscheinen und die Volksmassen zur Revolution führen.
Vieles ist heute noch aufgrund der mangelnden Quellenlage über die missglückte Revolution von 1935 unklar. Es lässt sich nicht genau rekonstruieren, ob und inwiefern sie in ihrem Verlauf detailliert durchdacht und geplant war und inwieweit sie von der KI und der KPdSU gesteuert war. Soviel steht jedoch fest: In der Nacht auf den 24. November d.J. führten die kommunistischen Soldaten in Natal im Norden Brasiliens einen Aufstand im Namen der ANL durch, bei dem sie den Gouverneur Rio Grande do Nortes, dessen Minister und den Polizeipräsidenten in ihre Gewalt brachten, die Stadt militärisch kontrollierten und ein revolutionäres Komitee bildeten. Im Verlauf des 24. November folgten ihnen Soldaten in Recife (ebenfalls im Norden), scheiterten jedoch an den zur Verstärkung gerufenen Bundestruppen und zogen sich bereits am folgenden Tag zurück.
In Rio de Janeiro sollte ein Aufstand in der Kaserne des 3. Infanterie-Regiments Ausgangspunkt des Putsches sein, gleich neben dem weltberühmten Zuckerhut, im Zentrum Rios. In dieser Kaserne befanden sich 1700 Soldaten und 300 Offiziere; die Zelle der PCB zählte 30 Mann. In der Nacht vom 26. auf den 27. November sollte der Aufstand beginnen. Die Soldaten sollten anschließend zum Palast des Präsidenten vorstoßen und diesen festnehmen. Dieser Ablaufplan war von Prestes selbst entwickelt und ausgegeben worden.
In dieser Nacht war für alle Militäreinheiten höchste Bereitschaft angeordnet worden, offenbar wurde ein Aufstand angesichts der Geschehnisse in Natal und Recife erwartet. Als um 3 Uhr morgens auf das verabredete Zeichen hin der Kampf um die Kontrolle des 3. Infanterie-Regiments begann, reagierte der Militärapparat sofort. Die Kaserne wurde umstellt, die Boten, die die Nachricht vom Aufstand in die Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Minas Gerais bringen sollten wurden abgefangen und der Präsident Vargas verordnete noch in der selben Stunde den Ausnahmezustand. Der Militäraufstand breitete sich auch auf keinen der anderen zahlreichen Stützpunkte der Hauptstadt aus, lediglich die Luftwaffen-Schule schloß sich dem 3.Infanterie-Regiment an. Um 1 Uhr nachmittags am 27. November ergaben sich die Aufständischen des 3.Infanterie-Regiments. Der von der PCB ausgerufene Generalstreik zeigte keine große Wirkung.
Statt der Revolution begann bereits am 23. November 1935 in Brasilien die erste große Welle politischer Repression gegen revolutionäre Kräfte. Bekannte Aktivisten und Mitglieder der ALN und der PCB wurden festgenommen, ebenso trotzkistische und anarchistische Aktivisten, sofern es ihnen nicht gelang, rechtzeitig abzutauchen. In der Hauptstadt wurde die „Kommunisten-Jagd“ vom Polizeipräsidenten Filinto Müller angeführt, der ein hohes Kopfgeld auf Prestes aussetzte, tot oder lebendig. Als Prestes nach einem Monat noch nicht geschnappt worden war, verlängerte Vargas den Ausnahmezustand. In den folgenden Monaten wurde die Organisation der PCB durch die Aussagen der Frau des Generalsekretärs der PCB, Elvira Cupelo Colônio, erschüttert. Sie war bereits frühzeitig mit ihrem Ehemann Maciel Bomfin verhaftet worden. Vermutlich kam der Polizei eine durch den Schock der Verhaftung ausgelöste psychische Destabilisierung zugute, jedenfalls wurde sie in den Monaten nach der fehlgeschlagenen Revolution mehrmals auf freien Fuß gesetzt und führte die Polizei wiederholt zu klandestinen Strukturen der PCB. Das ZK der PCB ließ Cupelo Colônio festsetzen und verhörte sie anschließend. Mit der Zustimmung Prestes erfolgte der Beschluss, dass sie aufgrund des Verrats zu exekutieren sei. Dieser Beschluss wurde dann von Mitgliedern des ZK eigenhändig ausgeführt. In Brasilien bestand zu dieser Zeit ein ganzes Netz von Spitzeln, die für die Gestapo, den Intelligence Service und die CIA arbeiteten und die brasilianische Polizei mit „Tipps“ unterstützten. So berichtete der US-Konsul Xanthaky, der Arthur Ewert drei Wochen nach seiner Verhaftung besuchte, dieser hätte ihm berichtet, von deutschen Gestapo-Agenten und russischen Weißgardisten gefoltert worden zu sein.
Prestes und Olga wurden erst am 5. März 1936 in ihrer klandestinen Wohnung in Rio verhaftet. Prestes, Staatsfeind Nr. 1, hätte eigentlich bei der Verhaftung erschossen werden sollen, doch Olga hinderte die Soldaten an der Ausführung. Die beiden wurden getrennt und Prestes saß anschließend bis 1945 in Einzelhaft. Aufgrund Olga Benarios gefälschter Papiere war ihre Identität zunächst nicht zu ermitteln. Sie bestand darauf, Prestes’ Frau zu sein und somit ein Anrecht auf die brasilianische Staatsbürgerschaft zu haben. Anhand ihres Akzents und der Informationen des Gestapo-Spitzels Gruber wurde ihre deutsche Herkunft vermutet. Ihre Identität stellte schließlich die Gestapo mit Hilfe des brasilianischen Botschafters in Berlin, José Joaquim Muniz de Aragão, fest, der ein großer Bewunderer derselbigen war.
Im Gefängnis in Brasilien schritt Olgas Schwangerschaft fort. Sie hoffte durch diese eine Auslieferung an die Nazis zu verhindern, da der Vater ihres Kindes Brasilianer war. Doch der Polizeichef Filinto Müller, ein Offizier, der aus der „Coluna Prestes“ desertiert war, veranlasste mit Vargas die Abschiebung nach Nazi-Deutschland. Müller konnte dies mit Genugtuung als einen Schlag gegen Prestes Person sehen.
Gegen ihre Abschiebung aus Brasilien organisierte die Internationale Rote Hilfe (IRH) eine Solidaritäts-Kampagne in allen europäischen Häfen, so dass die Gestapo gezwungen war, ein Schiff aufzutreiben, dass direkt von Rio de Janeiro nach Hamburg fuhr. Nachdem Olga dennoch nach Deutschland deportiert worden war, erreichten IRH und Internationales Rotes Kreuz jedoch, dass Olgas Tochter Anita in die Obhut Prestes’ Mutter übergeben wurde. Olga Benario wurde nach der Geburt ihrer Tochter nach Lichtenburg verlegt, und nach einem Jahr, Ende 1938, in das KZ Ravensbrück. Obwohl sie nicht bei den politischen Gefangenen, sondern den „Asozialen“ untergebracht worden war, setzte Olga ihre politische Arbeit auch im KZ fort. Sie trieb den Zellenblock zum Frühsport, gab Unterricht gab und inszenierte Lehrstücke; und das, obwohl die Frauen im KZ Ravensbrück 12 Stunden täglich als Zwangsarbeiterinnen für Siemens arbeiten mussten. Im Februar 1942 wurde sie im KZ Bernburg vergast.
Die Phase des “Estado Novo”
Nach November 1935 waren die brasilianischen Gefängnisse gefüllt mit Mitgliedern der ANL und der PCB. Zwei der Hauptgefängnisse für politische Gefangene waren die Gefängnisinseln Fernando de Noronha und die Ilha Grande. Auf ersterer entstand ein legendäres Gefangenen-Kollektiv, dessen Sprecher ein junger und von seinen Mitinsassen hoch angesehener Kommunist aus Bahia namens Carlos Marighella war.
Marighella war 1930 mit 19 Jahren der PCB in seiner Heimatstadt in Bahia beigetreten. Da nach 1935 viele Aktivisten und Kader der PCB im Gefängnis saßen, musste die Partei Aufgaben an jüngere und unerfahrenere Aktivisten umverteilen. So kam Marighella 1937 nach São Paolo, die Stadt, die seine spätere politische Laufbahn prägen sollte. 1939 wurden er und alle anderen Führungskader der PCB verhaftet und kamen nach Fernando de Noronha. Als diese Gefängnisinsel 1942 wegen des II. Weltkrieges geschlossen wurde, verlegte man sämtliche Gefangene nach Ilha Grande.
Während der Großteil der Aktivisten der PCB im Gefängnis saßen, beschloss eine kleine Gruppe, die auf nationaler Ebene die Führung inne hatte, ein neues Zentralkomitee zu bestimmen, mit dem inhaftierten Prestes als Generalsektretär. Auch Marighella war für dieses ZK bestimmt worden, doch schloss er sich der Position der Basisgruppen aus Sao Paolo an und weigerte sich dieses auferlegte ZK anzuerkennen.
1937 inszenierte Vargas einen „kommunistischen“ Putschversuch. Er nutzte diesen, um eine neue Verfassung zu erzwingen, mit der der Ausnahmezustand festgeschrieben wurde, der sogenannte „Estado Novo“ (Neuer Staat) wurde proklamiert. Damit wurden faktisch die Verhältnisse wiederhergestellt, unter denen Vargas bereits 1930-1934 regiert hatte. Durch den Eintritt der US-Amerikaner in den II. Weltkrieg war Vargas gezwungen, gegen Nazi-Deutschland Partei zu ergreifen, mit dem das Brasilien des faschistoiden „Estado Novo“ bis dahin freundschaftliche Beziehungen gepflegt hatte. Und so landeten in Italien mit den us-amerikanischen Streitkräften auch einige hundert brasilianische Soldaten. Die PCB beschloss für die Dauer des Krieges ihre politischen Aktivitäten einzustellen und „ihrer“ Regierung nicht in den Rücken zu fallen, da mit dem Kriegseintritt Brasiliens gegen den Nazi-Faschismus ein faktisches Bündnis mit der SU bestand.
Nach dem II. Weltkrieg wurden die Gefangenen der PCB und der ANL freigelassen. Prestes wurde als Generalsekretär der Partei zuerst in Rio de Janeiro, dann in São Paolo in Fussballstadien von den Massen gefeiert. Die PCB wurde von Vargas legalisiert und nahm an den Parlamentswahlen 1945 teil. Prestes wurde zum Senator gewählt und 14 weitere Kommunisten zu Abgeordneten, unter ihnen Marighella. Nur zwei Jahre später wurden den Kommunisten die Mandate aberkannt und die PCB erneut verboten. Die Aktivitäten in der Legalität, u.a. im Parlament, und ihr Verbot hatte der Partei jedoch die nötige Aufmerksamkeit verschafft, um sich endgültig zur Massenorganisation zu entwickeln.
Vargas war 1945, ein halbes Jahr vor den von ihm verordneten Wahlen, durch einen Militärputsch abgesetzt worden. 1950 kandidierte er erneut als Präsident und wurde als „Liebling des Volkes“ gewählt. Bei seiner populistischen Kampagne „Das Öl ist unser“, die 1953 in der Verstaatlichung der brasilianischen Ölförderung mündete, wurde er auch von der PCB unterstützt. Diese orientierte sich in den 50er Jahren auf die Basisarbeit in den Massenorganisationen. Eine zentrale Figur war auch hier Marighella, der ab 1952 die Aktivitäten der PCB innerhalb der Gewerkschaften koordinierte. So wurde ihm auch der Erfolg des „Streiks der 300 000“ Anfang 1953 in São Paolo zugeschrieben. Ausgelöst durch Arbeiter der Textilindustrie, die 60% mehr Lohn forderten, weitete sich der Streik auf die Metaller, Drucker, und andere Sektoren aus und führte zu einer 32%igen Lohnerhöhung und der Freilassung aller während des Streiks Verhafteten. Vermutlich aus Gründen des internen Machtkampfes wurde Marighella daraufhin für ein Jahr in die Volksrepublik China beordert.
Die PCB gewann in diesen Jahren viel an Zulauf unter den Arbeiter- und Volksmassen. Sie kam jedoch nicht der Popularität des „Volkspräsidenten“ Vargas bei, der auf seinem nationalistischen Kurs sogar so weit ging, einen Arbeitsminister zu ernennen, der eine Anhebung des Mindestlohns um 100% durchsetzen wollte. Obwohl dieser gewisse Goulart, der einige Jahre später noch eine wichtige Rolle spielen sollte, sofort von Vargas abgesetzt wurde, erhöhten die brasilianischen und internationalen Oligarchien den Druck enorm auf Vargas. Dieser gab sich vier Monate später, im August 1954, in seinem Regierungspalast „die Kugel“.
Die “Entstalinisierung” der PCB
Besonders hart traf die PCB, die ja eine „Modell-Partei“ der KI gewesen war, die Kritik Nikita Kruschevs an Stalin, die 1956 auf dem 20. Kongress der KPdSU formuliert wurde. Die PCB weigerte sich, die Verbrechen des Stalinismus anzuerkennen und leugnete anfangs die diesbezüglichen Meldungen der bürgerlichen Presse bis Ende des Jahres der brasilianische Delegierte verspätet aus Moskau zurückkehrte. Viele brasilianische Kommunisten waren nach diesen Enthüllungen am Boden zerstört.
In den folgenden vier Jahren entwickelte sich eine Debatte um die Restrukturierung der Partei. Diógenes Arruda Câmara und Mauricio Grabois, die 1956 beide am 20. Kongress der KPdSU teilgenommen hatten, vertraten die Auffassung, dass die Enthüllungen des 20. Kongresses als Vorwand benützt würden, die revolutionäre PCB in eine bürgerlich-demokratische Partei umzuwandeln. Im Zentrum dieser Debatte stand für sie die Frage, welche reellen Auswirkungen der Stalinismus auf die Praxis der Partei gehabt hatte. Tatsächlich war auch in der PCB um Stalin als „Sieger über den Faschismus im II. Weltkrieg” ein Personenkult errichtet worden. Die Vertreter einer revolutionären Linie innerhalb der PCB verteidigten jedoch eine Auseinandersetzung mit den marxistisch-leninistischen Grundideen der Partei und widersprachen der Darstellung, die PCB sei eine Kopie der KPdSU gewesen, die die Verbrechen Stalins geteilt habe und deswegen von Grund auf neu überdacht werden müsse. Sie forcierten stattdessen eine Diskussion um die zentrale Frage der Balance zwischen Demokratie und Zentralismus in der Partei.
1958 erstellte eine Schatten-Kommission innerhalb des ZK, die von Prestes und dessen Vertrauten gesteuert wurde, ein neues Strategiepapier, die sog. März-Erklärung. In diesem Papier wurde mit der marxistisch-leninistischen Perspektive eines bewaffneten Aufstands abgerechnet. Stattdessen sollte ein Pakt mit der nationalen Bourgeoisie angestrebt, d.h. eine nationale Einheitsfront etabliert werden, unter der das Land kapitalistisch entwickelt werden sollte, bis es für den Sozialismus „reif“ wäre. Das Ziel war die Erkämpfung der nationalen Souveränität gegenüber dem in Brasilien dominanten US-Monopolismus, erst danach sollten die Interessen der Arbeiterklasse folgen. Als politisches Mittel wurde der „demokratische Reformismus“ vorgegeben. Diese programmatische Neuausrichtung wurde 1960 auf dem 5. Parteitag, auf dem Prestes erneut zum Generalsekretär gewählt wurde, zur Parteilinie erklärt. Auf diesem Parteitag wurde die Partei auch in „Partido Comunista Brasileiro“ (Brasilianische Kommunistische Partei) umbenannt; der vormalige Parteiname „Partido Comunista do Brasil“ (KP von Brasilien) wurde damit abgelegt.
Dieser neuen Parteilinie wurde mit dem „Brief der Hundert“ widersprochen, in dem Diógenes Arruda Câmara, Mauricio Grabois, João Amazonas, Angelo Arroyo, Carlos Danielli und Pedro Pomar, die vor dem 5. Parteitag Mitglieder des ZK gewesen waren, eine Abkehr von diesen revisionistischen Tendenzen forderten. Viele andere Partei-Aktivisten unterstützten die Erklärung der Vertreter der revolutionären Linie in der Partei. Als Antwort wurden sie von der Parteiführung aus „disziplinarischen Gründen“ ausgeschlossen. Ihre Postion wurde als Sympathiebekundung gegenüber der chinesischen KP verklärt. Die KPCh begann Mitte der 50er Jahre eine Polemik mit der KPdSU um Grundfragen der Strategie und Taktik kommunistischer Politik. Die Vertreter der revolutionären Linie verwahrten sich in einem Brief an Kruschev gegen diese Unterstellungen, die in der Pravda verbreitet und auch von der bürgerlichen Geschichtsschreibung übernommen wurden.
Gegen den pazifistischen Reformismus der Prestes-Moskau-Linie gründeten die ausgeschlossenen Revolutionäre die Kommunistische Partei als PCdoB (KP von Brasilien) neu. Zentral war, dass der PCdoB der bewaffnete Volksaufstand als Mittel der Revolution galt. Marighella, Joaquim Câmara Ferreira, Apolônio de Carvalho und andere akzeptierten die Prestes-Umstrukturierungen zugunsten der Einheit der Partei und der internen Disziplin. Sie setzten ihre Opposition innerhalb der PCB fort, was später nach dem Militäputsch von 1964 für viele allerdings untragbar wurde.
Zur gesamtpolitische Entwicklung Brasiliens nach Vargas
Nach Vargas Tod wurde Juscelino Kubitschek zum Präsidenten und der Vargas-Anhänger Joao Goulart zum Vizepräsidenten gewählt. Kubitschek strebte, wie auch Vargas zuvor, die kapitalistische Weiterentwicklung der brasilianischen Produktivkräfte an. Er setzte jedoch nicht auf den nationalistischen Kurs wie Vargas und auch die PCB, sondern er sah das internationale Kapital als wesentlichen Faktor. Entgegen der Position der PCB stieß diese Vorstellung beim nationalen brasilianischen Kapital auf offene Ohren. Kubitschek zufolge hätte die kapitalistische Entwicklung und der gesteigerte gesellschaftliche Reichtum die Ungerechtigkeiten in der brasilianischen Gesellschaft behoben.
1960 unterstützte die PCB bei den Präsidentschaftswahlen den konservativen nationalistischen General Lott, der nach Vargas Tod demokratische Wahlen gewährleistet hatte. Es gewann jedoch der progressivere Konservative Jânio Quadros. Vizepräsident wurde erneut João Goulart, der mit Lott kandidiert hatte, aber ein Symphatieträger der Arbeiterbewegung war. Obwohl sich Jânio Quadros Politik eng an den Richtlinien des IWF orientierte, bereitete er der brasilianischen Oligarchie Kopfzerbrechen. Er vertrat eine „autonome und nicht-angepaßte Außenpolitik“. Diese drückte sich u.a. darin aus, eine Annäherung an Cuba zu einem Zeitpunkt zu suchen, an dem die USA paramilitärische Invasionen gegen den Inselstaat startete. Quadros empfing Staatsgäste in traditionellen indischen Gewändern und Che Guevara bei einem Besuch mit allen repräsentativen Ehren. Als Quadros dem „Freiheitskämpfer“ Che auch noch den höchsten Orden des brasilianischen Staates verlieh, war der Gipfel für die Oligarchie erreicht. Um seine Vorstellungen gegen das Parlament (einschließlich seiner Verbündeten) durchzusetzen, drohte er wiederholt mit seinem Rücktritt und verkündete diesen am 25. August 1961. Bis heute sind den Historikern seine genauen Beweggründe ein ungelöstes Rätsel.
Unter der Führung des jungen national-sozial orientierten Gouverneurs von Rio Grande do Sul, Leonel Brizola, und einer demokratischen Einheitsfront, an der sich auch die PCB beteiligte, ging das Volk auf die Straße, um die Amtsübernahme des Vizepräsidenten Goulart einzufordern. Dieser wurde nur dadurch Präsident, weil er sich zu Konzessionen bereit erklärte und präsidiale Befugnisse an ein neu geschaffenes Amt des Premierministers abtrat. Goulart stieß in den folgenden drei Amtsjahren viele grundlegende Reformen der brasilianischen Gesellschaft an Sein Rückhalt im Volk erlaubte es ihm sogar, sich per Volksentscheid den Premierminister wieder vom Hals zu schaffen. Dennoch führte er seine Reformprojekte nicht konsequent durch; er verweigerte sich letztlich, den Kampf der Volksmassen gegen die Oligarchie anzuführen.
Die Massenkämpfe waren in diesen drei Jahren in voller Blüte: unter der Führung der PCB wurde der „1. Nationale Kongress der Landarbeiter“ abgehalten, der den Kampf um die Agrarreform einläutete. 1962 gründeten in São Paolo 3500 Delegierte das „Comando Geral dos Trabalhadores“ („Allgemeine Führung der Arbeiter“) nachdem in den vorhergegangenen beiden Jahren 3 Millionen Arbeiter in den Streik getreten waren.
Doch auch die brasilianische Rechte war hochgradig aktiv. Sie bereitete an mehreren Fronten die bewaffnete Counter-Politik gegen die erstarkende proletarische Aktivität vor. Die Armee richtete Trainingscamps der Paramilitärs ein, die CIA unterstützte den Aufbau einer 10 000-Mann starken Privatarmee in Alagoas im Landesinnern und auch im Nordosten bereiteten sich die Großgrundbesitzer auf eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der armen Landarbeiter-Bevölkerung vor. Wie bereits damals eine parlamentarische Untersuchungskommission belegte, übte die CIA zu diesem Zeitpunkt durch eine Tarnorganisation, das IBAD (Brasilianisches Institut für Demokratische Aktion), Einfluss auf Politiker, Intellektuelle und Gewerkschafter aus, manipulierte Wahlen und finanzierte die Wahlkampagnen von mehr als hundert Parlamentariern.
Der Militärputsch 1964
Anfang des Jahres 1964 wusste Präsident Goulart bereits von den Vorbereitungen eines Militärputsches gegen ihn, auch dass dieser vom Militärattaché der amerikanischen Botschaft, Coronel Vernon Walters, koordiniert wurde. Er stützte sich auf seinen Rückhalt im Volk und rief zu Demonstrationen zur Unterstützung einer Verfassungsänderung auf, die seine Reformen ermöglicht hätte.
Am 31. März 1964 inszenierte ein CIA-Agent innerhalb der brasilianischen Marine eine Pro-Goulart-Demonstration von 200 Matrosen, die als Vorwand für den Militärputsch diente. Der Putsch wurde begleitet von Demonstrationen bürgerlicher katholischer Organisationen; das Kleinbürgertum und die Bourgeoisie begrüßten die Wiederherstellung der Ordnung. Zwei von der PCB dominierte Panzerdivisionen in Rio de Janeiro versuchten in den ersten Tagen noch einen Gegenputsch loszutreten, doch dieser missglückte und die kommunistischen Soldaten wurden eingesperrt. Die PCB rief am 31. März einen Generalstreik in Rio de Janeiro aus, der sich jedoch als taktischer Fehler offenbarte, da er das Proletariat quasi „stilllegte“ und den Putschisten die Straßen überließ. Somit waren keine widerständigen Volksmassen in der Stadt präsent. Zeitgleich begann die Jagd auf die Mitglieder der kommunistischen Partei. Prestes war im Untergrund, einige andere, die sich in Rio de Janeiro befanden, unter ihnen Marighella, redigierten einen Diskussionsvorschlag, in dem die pazifistische Politik des Paktes mit der Bourgeoisie revidiert wurde und in dem sie zum Widerstand gegen den Militärputsch aufriefen.
Spontanen Widerstand gab es in den ersten Tagen vor allem von den organisierten Studenten, die am Abend des 31. März im Zentrum Rio de Janeiros im FNFi (Philosophie-Institut) und im CACO (Jura-Akadamie) „Teach-Ins“ zum Schusswaffen-Gebrauch abhielten. Verschiedene PCB-Abspaltungen hatten in den folgenden Jahren ihren Ursprung in der studentischen Fraktion der PCB. Diese verfolgten das Ziel, sich der Militärdiktatur offensiver als es die Parteilinie vorsah zu widersetzen.
Nachdem die PCB unter Prestes sich weigerte, ihre strategische Verirrung zuzugeben und den bewaffneten Widerstand zu organisieren, bildeten sich in ganz Brasilien “Dissidências do PCB” (Abspaltungen), die häufig der Ausgangspunkt für die neuen Stadtguerilla-Organisationen wurden, allen voran die ALN.
Leonel Brizola, der der sozialdemokratischen PTB (Partido Trabalhista Brasileiro – Arbeiter Partei Brasiliens) angehörte, ging ins Exil nach Uruguay und versuchte von dort aus, einen bewaffneten Widerstand zu koordinieren, der jedoch nie zustande kam. Später beteiligten sich Aktivisten der PTB an der Stadtguerilla in Porto Alegre.
Mit dem Putsch begann eine große Repressionswelle gegen die revolutionäre Linke. Die Organe der Repression waren sowohl die politische Polizei, das DOPS (Abteilung für Politische und Soziale Ordnung), und der Geheimdienst (SNI), als auch, denn es war ja ein Militärputsch, die Nachrichtendienste von Marine (CENIMAR), Luftwaffe (CISA) und Heer (CIE).
In der ersten Phase wurden 4000 politische Oppositionelle verhaftet. Die PCB ging in die Defensive. Carlos Marighella wurde in einem Kino in Rio de Janiero vom DOPS gestellt. Diese legendäre Szene stellte sich folgendermaßen dar: Durch laute Rufe wies er darauf hin, dass er unbewaffnet sei, kein Krimineller, sondern Kommunist und die „Ganoven“ ihn umbringen wollen. Ein Schuss trifft ihn in die Brust, verletzt jedoch weder Herz noch Lunge und so wird er unter Schlägen in einen Lieferwagen vor dem Kino gezerrt, wobei er unaufhörlich „Nieder mit der Diktatur, es lebe der Kommunismus, es lebe die Demokratie!“ skandiertt. Durch das Aufsehen, das er bei seiner Verhaftung erregt, ist der öffentliche Druck auf das DOPS groß. Er wird in ein Krankenhaus gebracht und nicht gefoltert bzw. getötet. Einige Tage später stattete ihm der als Staatsanwalt agierende General der Junta im Gefängnis einen Besuch mit Presse ab. Während dieses Termins zog sich Marighella das Hemd aus und zeigte den Pressevertretern seine Einschusslöcher. Zudem denunzierte der die Folter an den anderen politischen Gefangenen. Zwei Monate später musste er freigelassen werden. Er tauchte sofort ab, da gegen ihn bereits eine Präventivhaft verordnet worden war.
Im Untergrund publizierte er das Buch „Porque resistí a Prisão“ („Warum ich gegen meine Verhaftung Widerstand leistete“), in dem er zum Widerstand gegen die Militärdiktatur agitiert. Er wollte öffentlich ein Symbol des Widerstands gegen die neuen Machthaber setzen, die „die Interessen der Ausbeuter repräsentierten und verteidigten.“ Da die Militärdiktatur die Interessen der USA durchsetzte ($ 425 Millionen-Kredit an die Militärjunta, Ernennung von US-nahen Generälen für die Ministerien für Wirtschaft und Planung), sei ein Bündnis mit der fortschrittlichen nationalen Bourgeoisie unumgänglich. Allerdings nicht auf dem pazifistischen Weg, den die PCB vertrat, denn „eine friedliche Revolution (sei) durch die Gewalt der Feinde des Volkes in weite Ferne gerückt“. Nur bewaffneter Widerstand würde, so Marighella, „Unabhängigkeit und sozialen Fortschritt“ erkämpfen können. Er warnte davor, dass das neue Regime sich die durch eine Schein-Verfassung eine bürgerlich-demokratische Fassade geben könnte.
Die PCB sah diese Äußerungen Marighellas als Provokation an. Die Analyse des Putsches befand sie zwar als korrekt, doch was den bewaffneten Widerstand betraf, vertrat Marighella eine der Parteilinie entgegengesetzte Position. Durch die Umstände der Klandestinität wurde Marighellas Positionierung jedoch erst bei einem Treffen des ZK im Mai 1965 offiziell thematisiert. Marighella wich der offenen Konfrontation mit der Parteiführung aus, um seine Position im ZK zu erhalten und einem potentiellen Ausschluss zu begegnen. Er versuchte seine Stellung als ZK-Mitglied zu nutzen, um innerhalb der Partei Zustimmung für den bewaffneten Kampf zu sammeln. Dieser Taktik der internen Opposition schlossen sich mehrere Mitglieder des ZK an: Mario Alves (später PCBR), Apolônio de Carvalho (später PCBR und ALN), Jacob Gorender und Antonio Câmara Ferreira (später ALN).
1965 veröffentlichte Marighella den Aufsatz „A Crise Brasileira“ („Die Brasilianische Krise“), in der er die brasilianische Ökonomie im Kontext der weltweiten kapitalistischen Krise analysierte. Danach hatte sich das Regime mittlerweile stabilisiert. Und entgegen der Analysen der PCB hatte sich die nationale Bourgeoisie sehr gut mit der imperialistischen Dominanz arrangiert. Die brasilianische Bourgeoisie ging eine Allianz mit dem US-Imperialismus ein, der deren Interessen keineswegs beschnitten hatte, sondern vielmehr ein Wirtschaftswunder nach dem Muster des IWF einleitete. Daher distanzierte sich Marighella mit diesem Papier von der Strategie der PCB, die nach wie vor auf ein Bündnis unter der Führung einer (fiktiven) national-progressiven Bourgeoisie setzte. Der organisierte bewaffnete Widerstand spielte in den strategischen Überlegungen der PCB keine Rolle und wurde folgerichtig abgelehnt.
Stattdessen müsse, so Marighella inhaltlich, der bewaffnete Kampf im Verbund mit allen anti-diktatorischen Kräften bis zum revolutionären Bürgerkrieg verfolgt werden. Allerdings betonte er, dass nur die Hegemonie der Kommunisten in dieser angestrebten „Antifaschistische Einheitsfront“ verhindern würde, nicht in einem weiteren bürgerlichen Staat zu enden. Ein solcher wäre ohnehin nicht in der Lage, die notwendigen Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft herbeizuführen, sich vom US-Imperialismus zu emanzipieren und den Großgrundbesitz aufzulösen. Außerdem kritisierte er die Fixierung der PCB auf die urbanen Zentren und die Vernachlässigung der Landarbeiter und der Agrar-Frage. Dieses Papier erzwingt die interne Partei-Debatte, vor allem weil Marighella seine Stellung im ZK geschickt einzusetzen verstand, um seine Thesen innerhalb der Parteigliederungen zu verbreiten.
In der zweiten Hälfte des Jahres erklärte Marighella seinen Rücktritt aus dem ZK, das zu diesem Zeitpunkt in zwei Fraktionen gespalten war. Zudem kritisierte er, dass seit dem Putsch von ’64 vom ZK keine Orientierung mehr für die Partei ausgegangen sei. Er war jedoch weiterhin Generalsekretär der PCB im Bundesstaat São Paolo, wo er auch den meisten Einfluss hatte. Im April 1967 erschien Prestes persönlich bei einer Versammlung in São Paolo, um gegen die erneute Kandidatur Marighellas anzutreten. Doch von 37 Delegierten entschieden sich 33 für Marighella und den bewaffneten Kampf. Das ZK annulliert im Nachhinein sowohl die Wahl als auch die Mandate der Delegierten, die somit nicht am 6. Parteitag 1967 teilnehmen können. (Dieser parteiinterne „Vorgang“ wiederholt sich in Rio de Janeiro und in Rio Grande do Sul)
Im März 1967 gab sich die Militärjunta, wie von Marighella vorhergesagt, die demokratische Fassade einer Scheinverfassung. Der bisherige Präsident General Costa e Silva wurde vom General Castelo Branco abgelöst. Zwei Parteien wurden gegründet: die Regierungspartei Arena (Allianz Erneuerung Brasiliens, Vorsitzender Filinto Müller) und die Oppositionspartei MDB (Demokratische Bewegung Brasiliens). Der Präsident regierte weiterhin per Dekret und erließ als erstes ein Pressegesetz und ein Gesetz der Nationalen Sicherheit. Mit diesen „gesetzlichen“ Grundlagen wurde die Zensur (1968 wurden 44 Theaterstücke verboten) und die politische Justiz wieder eingeführt.
Marighella nahm im Sommer 1967 an der Konferenz der OLAS (Lateinamerikanische Solidaritäts-Organisation) in Kuba teil. Auf der OLAS-Konferenz kamen 700 Delegierte aus 22 lateinamerikanischen Ländern zusammen. Sie war ein Versuch der kubanischen Revolutionsregierung, den bewaffneten Kampf auch auf dem Kontinent anzustoßen und zu koordinieren. Die SU verfolgte seit dem II. Weltkrieg eine Politik der Nicht-Unterstützung bewaffneter Revolutionen, auch wenn eine partielle (materiell-militärische) Hilfe hier und da gewährt wurde. Kuba war isoliert und hatte ein unmittelbares Interesse an einem revolutionären Prozess in anderen lateinamerikanischen Ländern. Da die meisten KP’s in Lateinamerika SU-hörig waren, befolgten sie die Linie des „friedlichen Übergangs“ zum Sozialismus über die Etappe einer bürgerlichen antiimperialistischen „Revolution“. Die OLAS sollte die dem bewaffneten Kampf zugeneigten oppositionellen Kreise innerhalb und außerhalb der KP’s unterstützen und vernetzen. Sie hatte keinen bindenden organisatorischen Charakter wie die KI.
Apolônio de Carvalho zufolge begann Marighella in Kuba von den Ideen Régis Debrays beeinflusst zu werden, einen Einfluss, den Carvalho als negativ bewertete, vor allem hinsichtlich der Bedeutung einer Kommunistischen Partei in der Revolution. Debray hatte, entgegen der Erfahrung der kubanischen Revolution, begonnen, eine Theorie der bewaffneten Revolution ohne Kommunistische Partei zu vertreten.
Im September 1968 wurden Marighella, Joaquim Câmara Ferreira, Apolônio de Carvalho, Jover Telles, Mario Alves, Jacob Gorender und andere Oppositionelle aus „disziplinarischen Gründen“ aus der Partei ausgeschlossen, so dass Prestes auf dem 6. Parteitag keine (starke) innerparteiliche Opposition zu befürchten hatte. Tatsächlich hatten sich die Befürworter des bewaffneten Kampfes darauf vorbereitet, die Parteilinie auf dem 6. Parteitag zu kippen. Als sie jedoch mitbekamen, dass der Parteitag zu ihrem Nachteil strukturiert wurde, bereiteten sie die Gründung einer neuen Partei vor, der PCBR. Sie schätzten, dass sich etwa die Hälfte der 12000 PCB-Mitglieder der neuen KP anschließen würde.
Marighella jedoch, der in Kuba über dieses Projekt informiert wurde, war von der Idee nicht begeistert: „Ich werde nicht den Fehler begehen, eine dritte Partei aufzubauen.“
Nach dem Ausschluss gründeten Mario Alves und Aplônio de Carvalho die PCBR. Allerdings erhielt die PCBR weniger Zulauf als erwartet wurde. Die PCBR gründete sich vor allem, um eine „linkere kommunistischere“ Politik als die PCB zu vertreten und legte daher erst einmal ihren Schwerpunkt auf die Propaganda-Arbeit unter den Massen. Ab 1969 beteiligte sie sich aber auch am Aufbau und der Praxis der Stadtguerilla.
Marighella befasste sich zu diesem Zeitpunkt mit den komplexen Voraussetzungen, um in Brasilien eine Guerilla aufzubauen. Dazu verfasste er den Text „Algumas Questões sobre a Guerillha no Brasil“ („Einige Fragen bezüglich der Guerilla in Brasilien“). In diesem Papier unterteilte er den Guerillakrieg in drei Abschnitte: Vorbereitung, Beginn/Überleben, Wachstum/Stellungskrieg.
1. Die Vorbereitung muss von ideologisch gefestigten Kadern vorgenommen werden, die Regionen auskundschaften, Waffen und andere Logistik beschaffen und sich durch Training auf den Guerillakampf vorbereiten. Diese Phase findet in den Städten und unter absoluter Klandestinität statt.
2. Wenn die Vorbereitungen getroffen sind, muss sich die Guerilla in die inneren, unzugänglicheren Gebiete im Westen des Landes begeben, um der sogenannten strategischen Umzingelung der Repression auszuweichen. Die Streitkräfte der Regierung konzentrierten sich in den urbanen Zentren an der Küste, hier stehen ihnen die moderne Infrastruktur und ein bereits bewährtes logistisches Netz zur Verfügung. Durch die Verlagerung des Kampfes in das Landesinnere müssen sich die Streitkräfte in unbekanntes Gebiet begeben, neue Versorgungswege aufbauen, sich neu aufstellen. Sie versuchen nun, die taktische Umzingelung der Guerilla zu erreichen, um sie physisch und strukturell auszulöschen. An diesem Punkt, wenn die Streitkräfte aus den städtischen und industriellen Ballungszentren abgezogen werden, um die Guerilla in den entlegeneren Gebieten zu bekämpfen, fallen ihnen die revolutionären Organisationen in den Städten in den Rücken. In dieser Phase verlieren die Methoden der pazifistischen Einheitsfront und demokratischer Wahlen endgültig ihre Glaubwürdigkeit und treten hinter die revolutionäre Gewalt der Guerilla zurück. Nachdem der bewaffnete Kampf begonnen wurde, muss er auch aufrecht erhalten werden. Zudem muss die Unterstützung der Bevölkerung im Kampfgebiet gewonnen werden, um die dritte Phase erreichen zu können.
3. In der Phase des Wachstums tritt die Guerilla politisch zu Tage, ihr politisches Programm wird im ganzen Land bekannt gemacht. Die Reihen werden durch neue Rekruten aus der Bevölkerung verstärkt und die Volksarmee aufgebaut. Es beginnt der Stellungskrieg, in dem die Streitkräfte der Regierung zurückgedrängt werden, bis sie schließlich zwischen den bewaffneten Volksmassen aufgerieben werden.
Dieser kurze Überblick über die Taktiken des Guerillakampfes in Brasilien liefert zumindest einen Eindruck, unter welchen Prämissen dieser von Marighella geführt wurde.
Die Organisierung des Stadtguerillakampfes und die staatliche Reaktion
Marighella und einige andere erfahrene Kader gründeten nach ihrer Rückkehr nach Brasilien die „Agrupamento Comunista de São Paolo“ („Kommunistische Gruppe São Paolo“). Diese erklärte in einem Papier vom Februar 1968 die Notwendigkeit einer klandestinen, gut organisierten und flexiblen Avantgarde-Organisation. Diese soll vor allem kontinuierlich handeln, und sich nicht mit ewigen, unendlichen Diskussionen und Treffen aufhalten. Marighella traf sich mit Oppositionellen der PCB im ganzen Land und noch im Februar wurde die „Agrupamento“ auf nationaler Ebene in die „Ação Libertadora Nacional“ (ALN – Nationale Befreiungs Aktion) umgewandelt. Sie publizierte die klandestine Zeitschrift „O Guerillheiro“, die den Aufbau der Guerilla vorantreiben sollte.
Im „ominösen Jahr 1968“ brachen auch in Brasilien Studentenproteste und Arbeitskämpfe aus: Die Ermordung eines Studenten in Rio im März 1968 trat eine Welle von Demonstrationen in allen Großstädten los, die in einer Großdemonstration von 100000 Menschen in Rio und schließlich der Auflösung des 30. Kongresses der UNE (Nationale Studenten Vereinigung) in Ibiuna mündete (sowie der Verhaftung aller Delegierten). Die Arbeitskämpfe wurden von einer neuen Organisation koordiniert, die ebenfalls von Dissidenten der PCB gegründet worden war, dem „Movimento Intersindical Antiarrocho“ (Gewerkschaftsübergreifende Bewegung Antiarrocho). Am 1. Mai vertrieben Arbeiter in São Paolo den Gouverneur samt Anhängsel von der Bühne der offiziellen Feierlichkeiten und zündeten diese an.
Die ALN begann begann bereits von ihrer Gründung an mit bewaffneten Aktionen. 1968 wurden in São Paolo 11 Banken ausgeraubt, 5 Geldtransporter und ein Lohnzug. Die bewaffneten Aktionen der ALN wurden von den „Grupos Táticos Armados“ (Bewaffnete Taktische Gruppen) geplant und durchgeführt. Die Aktivisten der ALN wurden von einer Gruppe trainiert, die bereits Ende 1967 in Kuba eine Guerilla-Ausbildung erhalten hatte. Die ALN entsandte zudem Kundschafter in die Region Bico do Papagaio im Amazonas-Gebiet, um sie auf die Möglichkeiten einer ruralen (ländlichen) Guerilla hin zu untersuchen. Am 12. Oktober führte die ALN zusammen mit einer anderen bewaffneten Organisation, der Vanguarda Popular Revolucionaria (VPR – Revolutionäre Avantgarde des Volkes), in São Paolo die Exekution des Offiziers der US-Armee Charles Rodney Chandler, eines CIA-Agenten und Beraters der Junta, aus.
Die von der ALN als Enteignungen bezeichneten Überfälle wurden von ihr nicht öffentlich erklärt. Daher wusste die Polizei nicht, dass sie es mit einer bewaffneten revolutionären Organisation zu tun hatte, bis im November 1968 der Fahrer eines Fluchtautos unter Folter gestand, der Anführer und Urheber des Überfalls sei Marighella selbst gewesen. Marighella soll an fast allen Aktionen des Jahres 1968 teilgenommen haben. Er wurde daraufhin zum Staatsfeind Nr.1 tituliert. Damit ging nicht nur eine Verschärfung der Repression einher, sondern dies bedeutete ein faktisches Todesurteil Marighellas gegenüber. Als Reaktion bekannte sich Marighella mit dem „Chamamento ao Povo Brasileiro“ („Anrufung des Brasilianischen Volkes“) zu den bewaffneten Aktionen und stellte sie in den Kontext eines bewaffneten Widerstands gegen die Militärdiktatur.
Angesichts der Massenkämpfe führte die Militärjunta am 13. Dezember einen „Putsch im Putsch“ durch, den „Ato Institucional n° 5“ (5. Verfassungs-Erlass), der die Scheindemokratie von 1967 endgültig aus den Angeln hob.
Im Januar 1969 nimmt Marighella eine Umdeutung seiner Guerilla-Strategie vor. Die ALN hatte 1968 viel Zulauf erfahren, sie war auf nationaler Ebene gewachsen und hatte viele erfolgreiche Aktionen ausgeführt und wenig Verluste erlitten. Daher maß er den revolutionären Aktionen einen großen Wert zu, sie durften nicht abreißen, denn der revolutionäre Krieg war öffentlich begonnen worden, die ALN befand sich in der Offensive. Im Mai charakterisierte er die bewaffnete Aktion in den Städten, die Stadtguerilla in „O Papel Revolucionario na Organisação“ („Die revolutionäre Rolle der Organisierung)“ wie folgt: Psychologische Kriegsführung, Enteignungen des brasilianischen und ausländischen Kapitals, Erbeutung von Waffen und Sprengstoff, Zerstörung des Eigentums der US-Imperialisten und die Exekution von Agenten der US-Administration. Im Juni folgte das „Minihandbuch des Stadtguerillero“ mit systematischen Grundlagen für den bewaffneten Kampf in den Städten. Abgeschlossen wurde die Umdeutung im September mit „As Perspectivas da Revolução Brasileira“ („Die Perspektiven der brasilianischen Revolution“): Danach muss die revolutionäre Entwicklung durch die Stadtguerilla begonnen werden, da eine rurale Guerilla der zu schnellen Umzingelung und Vernichtung ausgesetzt worden wäre. Die urbane Guerilla hatte sich gefestigt und war gewachsen, sie sollte nun als logistischer Ausgangspunkt für eine rurale Guerilla dienen, und aus beiden zusammen würde schließlich die Revolutionäre Volksbefreiungsarmee entstehen. Dieser Umdeutung lag eine Analyse zugrunde, der zufolge sich die Militärdiktatur durch die weltweite ökonomische Krise des Kapitalismus, die Massenkämpfe sowie die bewaffneten Aktionen der Guerilla in die Defensive getrieben sah. Doch entgegen dieser analytischen Überlegungen war die Militärjunta mit dem „AI-5“ in die Offensive gegangen, tatsächlich war sie den bewaffneten Organisationen im Verlauf des Jahres dicht auf den Fersen und befand sich kurz davor, den taktischen Belagerungsring um die Guerilla zu schließen.
Am 4. September 1969 entführte die ALN zusammen mit der „Movimento Revolucionario 8 de Outubro“ (MR-8 – Revolutionäre Bewegung 8. Oktober, Todestag dex Che) den US-Botschafter Charles Burque Elbrick in Rio de Janeiro. „MR-8“ war eine Namenskreation anlässlich dieser Aktion. Diese PCB-Abspaltung nannte sich zuvor „Dissidência da Guanabara“ („Abtrünnige aus Guanabara“). Die Forderung der gemeinsamen Aktion war die Freilassung von 15 politischen Gefangenen verschiedener revolutionärer Organisationen, selbst der PCB, sowie die öffentliche Verlesung eines politischen Manifests gegen die Militärdiktatur auf allen Fernsehsendern. Das brasilianische Militär kannte den Aufenthaltsort der Entführer, doch die Militärjunta konnte das Leben des US-Botschafters nicht aufs Spiel setzen und ging auf alle Forderungen ein: Die Gefangenen wurden am 7. September gegen den Widerstand der Antiterror-Einheiten nach Mexiko ausgeflogen. Unmittelbar nach der Aktion reagierte das Regime: mit einem weiteren „Verfassungs-Erlass“ wurde die Verbannung eingeführt, die gegen die 15 befreiten Gefangenen angewandt wurde. Darüber hinaus wurde die lebenslange Haft und die Todesstrafe für Vergehen gegen die „Nationale Sicherheit“ eingeführt. Es folgte eine immense Verhaftungswelle, im Zuge derer landesweit 2000 neue politische Gefangene die Folterkeller des Militärapparats füllten.
Die ALN geriet durch die Verhaftungen stark unter Druck. Sie konnte noch immer keine Fortschritte im Aufbau einer ruralen Guerillastruktur verzeichnen. Bereits zwei Monate später, am 4. November 1969, wurde Carlos Marighella in São Paolo vom DOPS in eine Falle gelockt und ermordet.
Die ALN führte ihre Stadtguerilla-Aktionen fort, entwickelte jedoch keine rurale Guerilla und wurde letztendlich in den Städten aufgerieben. Diese Entwicklung war allen bewaffneten Organisationen gemein. Von 1970 an begannen die dezimierten Kräfte zusammenzuarbeiten: ALN, VPR, PCBR, MR-8, MRT und VAR-Palmares (Abspaltung der VPR) koordinierten fortan ihre bewaffneten Aktionen und führten gemeinsam politische Diskussionen . Die ALN und VPR vertraten dabei die Vorstellung eines nationalen Befreiungskampfes, während die MR-8, die sich hauptsächlich aus ehemaligen studentischen Kadern der PCB zusammensetzte, auf die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution bestand. Von der MR-8 kam auch die Kritik an der Methode der Entführungen, die immer häufiger nach „erfolgreichem“ Ausgang in der Verhaftung der Entführer endete.
Es gab in praktisch allen Großstädten bewaffnete Gruppen, deren Praxis in erster Linie aus Enteignungen und Entführungen, aber häufig auch Aktionen der bewaffneten Propaganda bestand. Die ALN konzentrierte sich auf São Paolo und Rio, hatte jedoch auch Ableger in Porto Alegre und Salvador, ebenso die VPR. Auch die PCBR und die POC (Partido Operario Comunista – Kommunistische Arbeiterpartei) waren an der Stadtguerilla beteiligt, obwohl sie in erster Linie Abspaltungsparteien der PCB waren, ebenso die PCdoB, die eine Ausdehnung ähnlich der PCB erreichte, doch auch ihre Aktivitäten konzentrierten sich in Rio und São Paolo. Andere Organisationen waren auf eine Stadt konzentriert: Die MR-8 und die Colina (Comando de Libertação Nacional) agierten in Rio, die M3G (Marx-Mao-Marighella-Guevara) in Porto Alegre, die MRT (Movimento Revolucionario Tiradentes) in Rio (später auch São Paolo), die „Movimento Revolucionário 26 de Março“ in Porto Alegre, die Rede (Resistencia Democratica – Demokratischer Widerstand) in São Paolo. Die Spuren weiterer bewaffneter Organismen haben sich im Laufe der Zeit verloren und müssen erst wiedergefunden werden.
Das Jahr 1970 bedeutete vor allem für die Repressionsorgane eine Bündelung der Kräfte. Im Juni nahm der Verteidigungsminister Orlando Geisel eine Umstrukturierung des militärischen Repressionsapparats vor: Brasilien wurde in vier ZDIs (Zona de Defesa Interna – Innere Verteidigungs-Zone) aufgeteilt, die den Heereskommandos I-IV untergeordnet wurden. Für diese ZDIs wurden DOI-CODIs geschaffen, deren Vorbild die „Operação Bandeirantes“ in São Paolo war. Die OBAN, eine koordinierte Repressionsbehörde von DOPS und CIE war mit finanziellen Mitteln nationaler und ausländischer Firmen als Modellprojekt ins Leben gerufen worden, um die „bewaffneten Terroristen“, die sie bedrohten effektiver zu bekämpfen. Zumindest für São Paolo ist bekannt, dass die Firmen auch in den folgenden Jahren Schutzgelder an die Anti-Terror-Behörden entrichteten, mit denen nicht zuletzt die paramilitärischen Todesschwadrone finanziert wurden.
Das CODI (Centro de Operações de Defesa Interna – Zentrum für Operationen der Inneren Sicherheit) war eine Institution in der die Nachrichtendienste des Militärs mit der zivilen Polizei koordiniert wurden; ihr operativer Arm waren die DOIs (Destacamento de Operações de Informações – Einheiten für Informations-Operationen). Die DOI-CODIs waren systematische Folter-Zentren, die die Stadtguerilla letztlich in die Knie zwangen. Tausende Menschen wurden hier in den 70er Jahren gefoltert, politische Aktivisten, Stadtguerilleros und Angehörige. Die zahlreichen Methoden der Folter hier aufzuzählen, erscheint nicht notwendig, sie sind im letzten Jahrhundert und bis zum heutigen Tag in vielen Volkskriegen auf der ganzen Welt angewandt worden. Es ist jedoch zu erwähnen, das die CIA in Brasilien die Terror-Techniken ihrer Panama-Schule erprobte und die brasilianischen „Spezialisten“ ihre Erfahrungen in den nächsten Jahren im Rahmen des „Plan Condor“ an die Militärdiktaturen in den Nachbarstaaten weiterreichten. Viele der politischen Kader wurden bis zum Tod gefoltert, beispielsweise Mario Alves, Gründungs- und ZK-Mitglied der PCBR, der in Rio de Janeiro im DOI-CODI nach tagelanger Folter spurlos verschwand (seine Verhaftung wurde nie offiziell anerkannt). Doch auch außerhalb der offiziellen Einrichtungen der DOI-CODIs wurde gefoltert. Todesschwadrone und andere paramilitärische faschistische Organisationen wie das „Comando de Caça aos Comunistas“ (Kommando Jagd auf Kommunisten), deren Aktivisten größtenteils Angehörige der Repressionsorgane waren, entführten, folterten und ermordeten linke Aktivisten. So wurde Joaquim Câmara Ferreira, Führungskader der ALN, nach seiner Verhaftung durch den infamen Chef des DOPS von São Paolo, Sérgio Paranhos Fleury (der auch für die Ermordung Marighellas verantwortlich war), an einen „inoffiziellen“ Ort verschleppt. Câmara Ferreira und viele andere wurden in solchen „klandestinen“ Folterstätten getötet und gelten seitdem als verschwunden. Doch die meisten wurden von Militärgerichten zu langen Haftstrafen verurteilt und saßen diese in Militärgefängnissen oder auf der als Hochsicherheitsgefängnis für politische Gefangene wiederbelebten Gefängnisinsel Ilha Grande ab.
Nach wie vor gibt es viele Verschwundene, da das Militär nie seine Archive öffnete. Von daher gibt es auch keine genauen Zahlen, doch wurden weit über 10.000 Menschen in den Jahren der Militärdiktatur in Brasilien durch Folter malträtiert.
Zum Abschluss wollen wir noch zwei bewaffnete Organisationen in einem Portrait vorstellen, die über einen gewissen Einfluss in der revolutionären Linken Brasiliens verfügten.
Die Vanguarda Popular Revolucionaria – VPR
Die VPR setzte sich hauptsächlich aus ehemaligen Militärs zusammen und folgte einer strikt foquistischen Linie, die auf Debray zurückgeht. Ihr prominentester Anführer war der junge Offizier Carlos Lamarca, der zusammen mit vier seiner Soldaten am 24. Januar 1969 aus seiner Kaserne desertierte und dabei 63 Sturmgewehre und drei schwere Maschinengewehre erbeutete.
Lamarca war vor seiner Desertion versichert worden, die VPR sei kurz davor, einen ruralen Guerillakampf zu beginnen. Eine Zusicherung, die sich als etwas übertrieben herausstellte. 1969 fusionierte die VPR mit dem „Comando de Libertação Nacional“ (Colina) aus Rio und hieß fortan “VAR-Palmares” (Bewaffnete Revolutionäre Avantgarde – Palmares), mit landesweit über 300 Aktivisten.
Diese neue Organisation spaltet sich jedoch noch im selben Jahr auf ihrem ersten Kongress über der Frage der ruralen Guerilla; aus der Spaltung geht eine Minderheitsfraktion unter Führung Lamarcas mit 60% der Finanzen und einem Großteil der Waffen als neu gegründete VPR hervor, die sich auf dem schnellstmöglichen Wege dem Aufbau einer ruralen Guerilla widmen will. Sie hat dafür zwei Regionen im Nordosten Brasiliens im Auge, konzentriert sich jedoch zunächst auf die Ausbildung ihrer Guerilleros und richtet zu diesem Zweck ein Lager im Innern des Staats São Paolo ein. Das Ausbildungslager befindet sich nahe eines zur Tarnung aufgekauften Gehöfts im Tal des Ribeira.
Im Januar 1970 beginnt das Training der 17 Guerilleros. Doch im März hat einer der Führungskader einen Auto-Unfall in São Paolo, bei dem er ohnmächtig in einem Auto voll mit politischen Unterlagen, Waffen und Munition gefunden wird und dem DOPS übergeben wird. Die VPR befürchtet, dass er unter Folter die Lage des Lagers verraten könnte und entführt am 11. März zusammen mit der Resistencia Democratica (Rede) und der MRT den japanischen General-Konsul in São Paolo. Diese Aktion verläuft erfolgreich, denn der verunglückte Kader kommt frei.
Kurz darauf verraten zwei andere Gefangene die Lage des Lagers und so beschließen die Guerilleros im April d.J. aus Sicherheitsgründen das Camp in kleinen Gruppen zu räumen. Die erste Gruppe entkommt der taktischen Umzingelung, doch die restlichen 9 Guerilleros sitzen in der Falle. Vom 21. April bis zum 31. Mai werden die 9 Guerilleros von 20.000 Soldaten gejagt, sie nehmen 18 Soldaten gefangen und töten 10 weitere. Lamarca entkommt mit zwei Genossen, die restlichen werden gefangen genommen. Innerhalb der Streitkräfte erhält Lamarca nach diesem „taktischen Meisterstück“ einen legendären Ruf. Nach der Ermordung Marighellas ist er nun der Staatsfeind Nr. 1.
Am 11. Juni 1970 entführen VPR und ALN in einer gemeinsamen Aktion den deutschen Botschafter in Brasilien Ehrenfried von Hollebenin in Rio de Janeiro. Am folgenden Tag geht die Regierung auf die erste Forderung ein und lässt eine Erklärung des Kommandos verlesen, am Tag darauf werden 40 politische Gefangene nach Algerien ausgeflogen.
Am 7. Dezember 1970 entführt die VPR ebenfalls in Rio den Schweizer Botschafter Giovanni Enrico Bucher. Doch diesmal verhandelt das Regime mit neuer Taktik: Stück für Stück reduziert sie die Forderungen der Entführer. Eine öffentliche Erklärung der entführenden Aktivisten wird nicht zugelassen, die Freilassung einzelner Gefangener, die auf einer Liste mit 70 Namen aufgeführt sind, wird abgelehnt. Die Verhandlungen werden in die Länge gezogen und kommen erst nach 40 Tagen zu einem Abschluss.
Aufgrund taktischer Differenzen während der Aktion gerät Lamarca unter Druck und erklärt am 22. März 1971 seinen Austritt aus der VPR, die er als zu avantgardistisch kritisiert. Er tritt der MR-8 bei, deren Positionen er sich schon seit längerem angenähert hatte. Die MR-8 befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung als sie im Mai 1971 vernichtend von der Repression getroffen wird. Lamarca flieht nach Salvador da Bahia, im Nordosten Brasiliens, und von dort im Juni mit einem Genossen der MR-8 zu dessen Familie im Landesinnern des Bundesstaates Bahia, in das Dorf Buriti Cristalino. Dort lebt er versteckt in der Steppe und beginnt in der Dorfschule zu unterrichten. Doch am 17. September 1971 holt ihn die Repression ein. Lamarca wird von Soldaten der politischen Militärpolizei DOI-CODI auf der Flucht im Schlaf überrascht und erschossen.
Das Ende der Stadtguerilla in Brasilien lässt sich nicht genau festlegen, allerdings kann festgestellt werden, dass gegen Mitte des Jahres 1973 nur noch wenige isolierte bewaffnete Zellen aktiv waren. Diese waren beständig vor der Repression auf der Flucht, politisch in der Defensive und verschwanden letztlich auf die eine oder andere Art organisatorisch völlig von der Bildfläche.
Die PCdoB und die „Guerillha do Araguaia“
Eine Ausnahme in der Entwicklung der revolutionären Linken war die PCdoB. Obwohl einige ihrer Aktivisten als „Ala Vermelha do PcdoB“ (Roter Flügel) an Stadtguerilla-Aktionen beteiligt sind, liegt der Hauptschwerpunkt der militärischen Aktivitäten der Partei im Aufbau einer Guerilla im Innern des Amazonas-Urwalds, im Gebiet des Araguaia-Flusses, der der Guerilla ihren Namen gab. Das Gebiet liegt zwischen den Bundesstaaten Pará, Goiás und Maranhão. Ende der 60er Jahre war dies eines der zurückgebliebensten Gebiete Brasiliens. 1966 begannen Aktivisten der PCdoB in das Gebiet zu kommen und sich einzuleben. Sie gingen in der Bevölkerung auf und waren aufgrund ihrer Verdienste für die Gemeinden hoch angesehen. Anfangs sind es 63 Guerilleros, im späteren organisatorischen Verlauf kann von etwa 100 ausgegangen werden.
Am Projekt der „Guerilla vom Araguaia“ nahmen auch einige der erfahrendsten Kader der PCdoB teil, u.a. Mauricio Grabois, João Amazonas und Elza Monnerat. Diese waren zu diesem Zeitpunkt alle drei bereits jenseits der 60 Jahre. Die 63 Guerilleros waren in drei Kommandos von jeweils 21 Kämpfern unterteilt. In erster Linie lebten sie als arme Bauern getarnt und integrierten sich in das örtliche Leben. Nebenher trainierten sie für die Guerilla und machten sich mit dem Dschungel vertraut. Ihre Waffen verschafften sie sich in der Region, es waren dies selben, wie sie von der Bevölkerung benutzt wurden.
Das Militär führte insgesamt drei Kampagnen gegen die Guerilla durch: Nachdem die örtliche Polizei 1972 die Präsenz „verdächtiger Subversiver“ gemeldet hatte, wurde eine Gruppe von „Aufstandsexperten“ ins Gebiet entsandt. Diese trafen die Fehleinschätzung, dass es sich um linke Studenten handele, die sich nur übergangsweise ins Dickicht geflüchtet hätten.
Am 12. April 1972 kamen 2000 Soldaten der BIS (Dschungel-Infanterie-Brigaden) in das Gebiet, um „die Terroristen“ unschädlich zu machen. Dies misslang. Die Guerilla war in den Dschungel ausgewichen und auf diesem Gebiet war sie den unerfahrenen Rekruten weit überlegen. Sie lauerten den Patroullien auf, töteten einzelne Soldaten und „terrorisierten“ den Rest der Truppe. Die Agenten des militärischen Nachrichtendienstes folterten derweil Angehörige der örtlichen Bevölkerung. Dies bereitete dem ersten Kommuniqué der FORGA (Forças Guerillheiras do Araguaia/Guerilla-Kräfte des Araguaia) einen „fruchtbaren Boden“. Die Bevölkerung unterstützte die Guerilleros auch logistisch, half ihnen mit Lebensmitteln aus und beschaffte Informationen. Die Regierungstruppen zogen Ende Juni ohne Erfolge und mit vielen Verlusten wieder ab. Die Guerilleros kehrten unbesiegt aus dem Dschungel zurück und begannen die Bevölkerung in der „União para a Libertade do Povo“ (ULDP – Bündnis für die Freiheit des Volkes) zu organisieren. In den 20 Organisationszellen der ULDP wird das „Programm der 27 Punkte“ erstellt, das Forderungen der Bevölkerung aufzählt und die Charta der Guerilla wird. Die FORGA verteilte in diesem Zeitraum 5000 Exemplare ihrer Kommuniqués und begann die Zeitung „O Araguaia“ herauszugeben (diese Schriften wurden in São Paolo von klandestinen Druckereien der PCdoB gedruckt und regelmäßig in die Region gebracht).
Die zweite Kampagne des Militärs dauerte nur zwei Monate (September/Oktober 1972); doch kamen diesmal Einheiten, die im Guerillakrieg ausgebildet waren. Dennoch waren sie den Guerilleros aufgrund ihrer Unkenntnis des Geländes unterlegen. Sie konnten diesen Nachteil auch nicht durch aus der Bevölkerung rekrutierte Handlanger ausgleichen. Allerdings erkannte die Militärführung schnell, dass sie mit dem Terror, den sie in der Bevölkerung gesät hatte, gute Überzeugungsarbeit für die Guerilla geleistet hatte. Erneut zog das Militär unverrichteter Dinge ab.
Dieser erneute Sieg der Guerilleros ließ sie in den Augen der Bevölkerung zum Teil als unbesiegbare „Urwaldgeister“ erscheinen. Diese „Unbesiegbarkeit der Guerilla“ schlug sich auch in der lokalen Folklore nieder. Die ULDP erhält nun Zulauf zu Hunderten und aus ihren Reihen verstärkte sich die Guerilla auf etwa hundert Kämpfer. Die Nachrichtendienste des Militärs beginnen zu diesem Zeitpunkt, die Region mit Agenten aus ihren Anti-Guerilla-Spezialeinheiten zu infiltrieren, die sich ähnlich der Guerilleros unter die Bevölkerung mischen. Die Warnungen der Guerilla greifen nicht und die örtliche Bevölkerung tut diese Bedenken ab. Die Guerilla will keinen Unmut erzeugen und lässt die Neuankömmlinge fahrlässigerweise in Frieden.
Als das Militär im Oktober 1973 in die Region zurückkehrt, rächen sich diese Fehler. Erfahrene Fallschirmspringer-Spezialeinheiten, die sich in ihrem Aussehen kaum von Guerilleros unterscheiden, dringen in die Dörfer ein und entführen mit Hilfe ihrer Spitzel mehrere hundert Unterstützer der ULDP. Sie werden in ein Gefangenen-Lager auf dem Flugplatz der Stadt Xamboiá gebracht und unter Folter verhört. Die gezielte, systematische Folter verunsichert die Bevölkerung effektiver als die wahllose. Anstatt – wie zuvor – als allgemeines Unrecht zu erscheinen, bestraft sie nun die Unterstützung der Guerilla, die so nach und nach ihrer sozialen Basis beraubt wird.
Ein weiterer taktischer Fehler wird der Guerilla zum Verhängnis. Anstatt den Truppen durch eine Verlagerung des Kampfgebietes auszuweichen, klammert sie sich an ihr angestammtes Territorium, was letztlich einem Stellungskrieg gleichkommt. Die FORGA erklären im Dezember 1973 ihre Auflösung, doch die Kämpfe in der Region dauern noch bis Januar 1975 an. Die wenigsten Guerilleros haben sie überlebt. Die Order der Streitkräfte war, die Aufständischen zu vernichten. Die meisten gelten noch heute als verschwunden. Das Militär blieb auch nach 1975 mit verstärkter Truppenstärke in der Region präsent und startete gezielte ideologische Programme, um die Erinnerung an die Guerilla auszuradieren und die Bevölkerung einer sozialen Kontrolle zu unterwerfen.