“Der Streik als Schlacht” – Ein Kampfmittel der klassenautonomen/proletarischen Linken

In der Rubrik “sozial-revolutionärer Widerstand” werden wir künftig in den Ausgaben der radikal verschiedene Formen von Interventionen und Aktionen vorstellen, die Teil einer klassenkämpferisch-proletarischen Grundorientierung sind. Es wird sich zeigen, dass die Bandbreite des sozial-revolutionären Widerstands vielfältig ist und so manche Überraschung bereithält.
Wir wollen uns in diesem ersten Teil eines zweigeteilten Beitrags zum Thema “Streik” mit einigen (historischen) Beispielen von Kämpfen der Aussetzung und Verweigerung von (Lohn-)Arbeit und deren Verläufen beschäftigen. Die Diskussionen innerhalb der revolutionären Linken zu Fragen des Inhalts und der Praxis von Streiks (einschließlich deren Einstellung oder Abbruch) sind sehr aufschlussreich, um ein Verständnis davon zu entwickeln, wann und unter welchen Voraussetzungen Streiks als Kampfmittel der proletarischen Massen ausgerufen und durchgeführt wurden.
In den von uns skizzierten Streikdebatten begegnen uns vor allem auch länger andauernde ideologische Auseinandersetzungen zwischen den AnhängerInnen eines anarcho-syndikalistischen sozialen Generalstreiks und eines (links-)kommunistischen politischen Massenstreiks. Ohne Kenntnis dieser alten Konfliktlinie sind heutige kontroverse Diskussionen um das Kampfmittel des Streiks oft nicht ganz nachzuvollziehen. Dieser Beitrag liegt zudem in der Linie der Revolutionären Linken (RL), kommunistische und anarchistische Positionen anhand bestimmter neuralgischer Punkte in ein diskussionsmäßiges und praktisches Verhältnis zu bringen. In diesem Sinne arbeiten wir an der von der militanten gruppe (mg) ins Feld geführten “leninistisch-blanquistischen Synthese” mit, ohne allerdings diesen “Syntheseversuch” überschwänglich mit Vorschusslorbeeren zu überschütten. Er ist sowohl herausfordernd, als auch überfordernd, und in seinem Ergebnis völlig offen. Dennoch halten wir es als praktisch-orientierten Theorievorstoß für richtig, mehr und mehr das Feld räte-, linkskommunistischer und syndikalistisch-unionistischer Ansätze zu beackern; ein Feld, das übrigens keineswegs eine Monokultur ist, sondern aus dem mitunter äußerst gegensätzliche Sprösslinge das Licht der Welt erblicken. In diesem Sinne betrachten wir eine derartige Textproduktion als einen sinnvollen Beitrag, verschüttete und verloren geglaubte Strömungen der revolutionären Linken über einen spezifischen thematischen Aufhänger bekannt zu machen und zur Diskussion zu stellen.
Und da haben wir auch überhaupt keine Berührungsängste zum “anarchistischen Streikterrorismus”, wie ihn der Chefideologe des sozialdemokratischen Revisionismus, Eduard Bernstein, in Verruf zu bringen versuchte. Das Inbrandstecken von Fabriken und Werksanlagen, das Entführen von Konzernchefs (einschließlich der physischen Attacke) sind nicht infolge eines liberalen Moralaufstoßes vorzuverurteilen, sondern zu diskutieren. Der proletarische Kampf um Klassenautonomie kennt viele Facetten und tabuisiert nichts, was dem Ziel einer egalitären und libertären Gesellschaftsform entspricht. Das heißt nicht, dass blind um sich geschlagen werden kann und soll, keineswegs; nur ist unser Leitfaden kein Abklatsch eines Kodex, der auf dem Schmierpapier bürgerlicher Gesetzestexte gekritzelt ist. Zur Klassenautonomie gehört untrennbar auch die Selbstregulierung, das Einfangen von Aktionsformen, die sich  verselbständigt haben. Klassenautonomie bedeutet, vor allem durch die Konfrontation und in der Konfrontation mit Staat und Kapital einen einigenden Prozess der proletarischen Linken und unserer Klasse auszulösen. Ja, wir wissen, da ist noch unendlich viel zu tun…
Zurück zum eigentlichen Thema. Ein Grundproblem hat sich schnell gestellt: Wie können wir den sehr umfangreichen Stoff der früheren Streikdebatten so bewältigen, dass zum einen ein durchaus solider Überblick geliefert werden kann, zum anderen aber keine detailverliebte Besessenheit in der Aufarbeitung passiert. In diesem Fall bringt der Mittelweg einmal nicht den Tod, sondern führt uns zu einer verdaulichen und übersichtlichen Vermittlung sowie Einführung in das Thema mit der von uns etwas dramatisch gewählten Überschrift “Der Streik als Schlacht”.
Ein kleiner Ausblick: Im zweiten Teil dieses Beitrags wollen wir uns vor allem mit den Formen der “wilden Streiks” ab Ende der 60er Jahre in der BRD und den aktuelleren Debatten um den in der BRD verbotenen politischen Streik beschäftigen. Zudem wollen wir die Erfahrungen der Kampagne des Bildungsstreiks zusammentragen, um zu schauen, inwiefern sich dieser zu einem (effektiven) Kampfmittel aus den Reihen der SchülerInnen, StudentInnen und Auszubildenden entwickeln kann, so dass diese Streikform nicht nur auf das Klientel des (Aus-)Bildungsbereichs beschränkt bleibt.

Streik gleich Streik?

Die Frage in der Zwischenüberschrift legt es bereits nahe: Es gibt eine Vielzahl von Streiks, die ganz unterschiedliche Inhalte und Forderungen tragen können. Der Streik um die Festsetzung von tarifvertraglich abgesicherten Löhnen ist der uns allen bekannte (wir lassen an dieser Stelle unberücksichtigt, dass der formale Abschluss von Tarifverträgen überhaupt keine Garantie bedeutet, dass “Tariflöhne” tatsächlich gezahlt werden). Darüber hinaus kennen wir Solidaritätsstreiks zur Unterstützung von bereits streikenden KollegInnen und eher punktuelle Protest- und/oder Warnstreiks, die der Startpunkt einer Streikwelle sein können.
OK, das Wort Streik” kommt aus dem Englischen (to strike) und bedeutet soviel wie die (Lohn-)Arbeit mit Nachdruck niederlegen, sie verlassen, um entweder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen (Arbeitsschutz) zu erreichen oder aber eine Verschlechterung (Arbeitszeitverlängerung ohne vollen Lohnausgleich) abzuwehren. Der Streik ist damit als Akt der Arbeitsniederlegung, als Ausstand zu kennzeichnen. Mit “Streik” ist aber mehr gemeint, als lediglich seinen Arbeitsplatz unbesetzt zu lassen, der (Lohn-)Arbeit schlicht fernzubleiben. Ein In-den-Streik-treten beinhaltet ein offensives Moment, den organisierten Willen, ein spezifisches Kampfziel zu verfolgen und zu erreichen. Nach der Erreichung des Kampfziels oder der Beendigung des Arbeitskampfes geht es in der Regel zurück an den Arbeitsplatz, wenn wir ein “herkömmliches Streikverständnis” zugrunde legen.
Der Streik ist vor allem auch ein “zeitgeschichtliches Phänomen”, das bereits vor der wirtschaftlich und politisch organisierten ArbeiterInnenbewegung als Kampfmittel zur Behebung von ausbeuterischen “Missständen” und der Sicherung der Lebenshaltung in der Regel “spontan” durchgeführt wurde. “Spontan” haben wir deshalb in Anführungszeichen gesetzt, weil jede Erhebung einen Vorlauf hat, nie aus dem Nichts heraus entspringt. Revolten kündigen sich nicht nur an, sie nehmen auch (unmerklich) Gestalt an; der Funken könnte nicht zünden, wenn nicht zuvor die Lunte gelegt und das Fass gefüllt worden wäre. Oft liegen Revolte also in der Luft, es reicht der kleinste Anlass und sie brechen aus. So sind die (Massen-)Streiks in der Geschichte allesamt nicht plötzlich aus heiterem Himmel, während einer Periode relativer sozialer Befriedung hereingebrochen, sondern sie waren stets ein Höhepunkt in einem längeren, umfassenderen Prozess der sozialen und politischen Konfrontation, in dem vorher wie hinterher in der alltäglichen Klassenkampfsituation mehr oder weniger begrenzte Streiks von unterschiedlicher Dauer und Heftigkeit geführt wurden.
Die organisierte und ausgedehnte Arbeitsniederlegung im Streik, verstanden als General- oder Massenstreik, greift die Produktionsverhältnisse einer kapitalistischen Klassenstaats dort an, wo sie durch die Organisation der lohnabhängigen Arbeit, die Verfügung über die Arbeitskraft, den Produktionsprozess und die Verwertung des Produkts augenfälligen Klassencharakter haben. Der Streik richtet sich gegen diesen besonderen Ge- und vor allem Verbrauch der Arbeitskraft, der nicht dem menschlichen Bedürfnis, sondern der Logik einer warenproduzierenden, profitmaximierenden kapitalistischen Ökonomie entspricht. Der Streik ist tendenziell immer Auflehnung gegen diese gesellschaftlichen Verhältnisse und damit auch immer ein Akt der Befreiung von ihnen.
Dass der Streik die praktische und ausdrucksstarke Kritik der ArbeiterInnenbewegung an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist, beschrieb Friedrich Engels bereits 1845 in “Die Lage der arbeitenden Klasse in England”. Selbst dann, wenn Streiks zu keinem Erfolg führen, seien sie notwendig, weil die Ausgebeuteten “erklären müssen, dass sie als Menschen nicht nach den Verhältnissen sich zu schicken, sondern die Verhältnisse sich nach ihnen, den Menschen, zu richten haben”. Die von den ArbeiterInnen geschaffenen Vereinigungen und die von ihnen organisierten Streiks stellen die ersten Versuche dar, die Konkurrenz unter den proletarischen Massen aufzuheben. Engels sieht darin eine Voraussetzung, die Konkurrenz überhaupt aufzuheben und der “heutigen Nationalökonomie und den Gesetzen des Lohnes” ein Ende zu bereiten. Allerdings entscheiden die vereinzelten Streiks selbst noch nichts, sie sind “Vorpostenscharmützel”, die die eigentliche Auseinandersetzung Klasse gegen Klasse  ankündigen. Streiks sind für Engels “die Kriegsschule der Arbeiter, in der sie sich auf den großen Kampf vorbereiten, der nicht mehr zu vermeiden ist”, und als Kriegsschule sind sie “von unübertrefflicher Wirkung”.
Der Knackpunkt ist dann der, inwieweit losbrechende Streiks, die Züge einer Revolte annehmen, nicht nur ein kurzes Strohfeuer bleiben, sondern den Gegenangriffen der Reaktion auch standhalten können, wenn nicht gar sich auszudehnen verstehen. In den beiden folgenden Abschnitten wollen wir uns deshalb mit “Streiktypen” auseinandersetzen, die sich nicht mit einem systemkonformen Forderungskatalog abfinden, sondern vielmehr darauf ausgerichtet sind, ein Katalysator in einer revolutionären Erhebung gegen einen gesellschaftlichen Zustand von Ausbeutung und Unterdrückung zu sein: der soziale Generalstreik und der politische Massenstreik.
Die Debatten um den Generalstreik bzw. um den Massenstreik lassen sich nicht so ohne weiteres klinisch voneinander entkoppeln, wie wir sehen werden. Auch wenn damit zwei durchaus verschiedene Streikkonzepte bezeichnet werden, flossen diese in der Kontroverse um einschneidende Mittel und Formen des organisierten proletarischen Kampfes oft ineinander.

Der soziale Generalstreik

Wenn wir uns an das Themenfeld des sozialen Generalstreiks herantasten, so stoßen wir schnell auf eine Fülle von Aspekten, die wir für einen Gesamtüberblick berücksichtigen müssten. Um den Bogen aber nicht zu überspannen, haben wir einige dieser Aspekte sozusagen repräsentativ ausgewählt, um euch einen konzentrierten Einstieg in eine vertiefte Debatte um die Frage des (sozialen) Generalstreiks vorzulegen.

Die Gewerkschaften und der Generalstreik als “regulative Idee”

In der Sprachwelt der konservativen Gewerkschaftsführung, die vor allem darum besorgt war, dass der stete Wachstum der Gewerkschaften nicht gefährdet wird, galt die Überlegung oder gar die Umsetzung eines Generalstreiks nach der Wortschöpfung des sozialdemokratischen Parteirechten Ignaz Auer als “Generalunsinn”. Und man nahm sich sogar heraus, diesen “Generalunsinn” aus den gewerkschaftlichen Debatten zu verbannen: “In der deutschen Gewerkschaftsbewegung haben wir dafür zu sorgen, dass die Diskussion verschwindet (über den General- bzw. Massenstreik) und dass man die Lösung der Zukunft, dem gegebenen Augenblick überlässt”. Diese Worte des Chefs der Bauarbeitergewerkschaft Bömelburg auf dem Gewerkschaftskongress 1905 wurde damit begründet, dass für den organisatorischen Auf- und Ausbau der Gewerkschaften gesellschaftspolitische Spannungen hinderlich sind: “Wir alle wissen, welche Mühe es gekostet hat, dass die Gewerkschaften einen solchen Stand erreicht haben (…) Ungeheure Opfer hat es gekostet,  um den augenblicklichen Stand der Organisation zu erreichen, und ungeheure Opfer wird es noch kosten, um die Organisationen auf eine noch höhere Stufe der Macht zu heben. Um aber unsere Organisationen auszubauen, dazu bedürfen wir in der Arbeiterbewegung Ruhe”.
Der Generalstreik wurde zudem, und das passt sehr genau in das “Argumentationsmuster” des Spitzengremiums der Gewerkschaften, mit “anarchistischen Umtrieben” in eine direkte Verbindung gebracht. Damit ließ sich der generelle Streik aus gewerkschaftlich-sozialdemokratischer Sicht im Handumdrehen diskreditieren, denn man war sehr darauf bedacht, nicht mit AnarchistInnen in einen Topf geschmissen zu werden. (Auf diese Diskussion innerhalb der frühen sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung kommen wir im nächsten Abschnitt noch zu sprechen)
Der soziale Generalstreik stellt im anarcho-syndikalistischen und revolutionär-syndikalistischen Spektrum das finale und ultimative Mittel zur Durchsetzung der sozialen Revolution dar. Um das allumfassende dieses Generalstreiks auch begrifflich zu fassen, wurde er von den VertreterInnen als sozialer Generalstreik bezeichnet. Damit war eine Abgrenzung bspw. zu “Generalstreiks” gegeben, die nicht auf die gesamtgesellschaftliche Umwälzung abzielten, sondern lediglich ein vorformuliertes Teilziel erreichen wollten. Rudolf Hilferding, der spätere Verkünder einer “Wirtschaftsdemokratie”, hatte bereits 1904 den Generalstreik als “die regulative Idee der sozialdemokratischen Taktik” verharmlost.  Der Generalstreik hat für ihn lediglich einen defensiven Charakter, er stellt eine permanente Drohung dar, um die Einschränkung politischer und wirtschaftlicher Rechte bereits im Vorfeld zu verhindern. Nicht für eine “plötzliche Umwälzung” ist der Generalstreik geeignet, “kein Mittel für alles oder jedes”.  Das Regulative der Generalstreikidee besteht darin, dass allein die Aussicht auf einen Streik bei den Herrschenden einen derart nachhaltigen Eindruck erweckt, dass sie von Angriffen auf die proletarischen Massen ablassen. Belustigt darüber schreibt der Herausgeber von Rosa Luxemburgs Werken, Paul Frölich, dass für Hilferding der Generalstreik “eine Garantie” war, “dass sich die Revolution und zwar friedlich durch die gymnastischen Übungen der Abgeordneten bei der großen Abstimmung vollziehen könne. Der Generalstreik als Schwungbrett für den Hammelsprung!”
Im Gegensatz dazu, deckt sich der soziale Generalstreik im (anarcho-)syndikalistischen Verständnis mit dem sozialrevolutionären Prozess des Kampfes um eine ausbeutungslose und unterdrückungsfreie Gesellschaft. “Der soziale Generalstreik”, um eine Aussage eines gleich etwas näher vorgestellten Protagonisten vorwegzunehmen, “ist somit die endgültige Emanzipation des Proletariats”.

Arnold Roller und Raphael Friedeberg als Verfechter der Generalstreikidee

Für die inhaltliche Aufbereitung und Abgrenzung der Generalstreikidee zu anderen Streikarten stehen zwei Personen Pate: Arnold Roller und Raphael Friedeberg. Die Begriffsfindung “sozialer Generalstreik” geht auf Arnold Roller, der eigentlich Siegfried Nacht heißt, zurück. Roller, der den “Sozialismus ohne Staat” als “kommunistischen Anarchismus” definiert, dürfte neben Fritz Kater und Rudolf Rocker zu den bekanntesten (anarcho-)syndikalistischen Akteuren zählen. Dass der Generalstreik faktisch mit der Revolution in Eins fällt, kommt besonders deutlich in Rollers Ausführungen über die charakteristischen Hauptmomente des sozialen Generalstreiks zum Ausdruck. Der Generalstreik trifft zudem den Zentralnerv der kapitalistischen Produktionsweise und Warenwelt: “Der Generalstreik ist die unter den gegenwärtigen Umständen einzig mögliche, von den ökonomisch-technischen Verhältnissen des Kapitalismus selbst geschaffene und bedingte Form der Revolution (…) Der Generalstreik kann  die Gesellschaft am empfindlichsten erschüttern, weil er sie bei der Vorbedingung des Lebens, ihrer Hauptstütze angreift: der Produktion und dem Konsum”.
Nach Rollers (schablonenhafter) Vorstellung ergreift der Streik in seinem Verlauf immer mehr Berufszweige und Branchen bis selbst das Militär “zerstreut und zersprengt” wird; “der Proletarier im Waffenrock” erkennt seine wahre Mission und tauscht “den Waffenrock wieder gegen die Arbeitsbluse” ein. Die Kontinuität des sich generalisierenden Streiks wird u.a. dadurch aufrechterhalten, indem sich die Streikenden durch Plünderungen und Enteignungen von Lebensmitteln bei Kraft und Laune halten – konsumieren, ohne zu produzieren, wie es die bourgeoise Welt allen meisterlich vorgemacht hat. “So ist der Generalstreik”, in Rollers Resümee, “nicht nur die Einleitung der Revolution, zu der er notwendig führt, sondern die soziale Revolution selbst. Er ist nur der Name der sozialen Revolution der Zukunft”.
Hinsichtlich der sozialen Revolution sieht Roller das Zeitalter des (gewalttätigen und gesetzwidrigen) Barrikadenkampfes u.a. durch städtebauliche Veränderungen ein für alle mal als erledigt an: “Der ungeheure Vorteil des Generalstreiks ist der, dass er ganz gesetzlich und für das Proletariat vollständig gefahrlos anfängt und dadurch, von Anfang an, auf Tausende rechnen kann, die niemals den Mut gehabt hätten, auf die Aufforderung zur Revolution auf die Straße zu gehen, sondern ruhig am Ofen zu Hause geblieben wären und die Revolution dadurch geschwächt, ja unmöglich gemacht hätten”. Die etwas irritierende Einschätzung Rollers, wonach sich ein Generalstreik vorzugsweise quasi in friedlichen und gesetzlichen Bahnen bewegen würde, lässt sich allein geschichtlich nicht bestätigen. Ein Prozess der sozialen Revolution wird, falls er an die Grundfeste der herrschenden Ordnung zu rütteln beginnt, auf den logisch folgenden und erbitterten Widerstand der Reaktion stoßen müssen, und da ist es nur ein Nebenaspekt, dass die streikende Welle früher oder später für illegitim deklariert werden wird. (Wir kommen später auf den Punkt, wie sich ein ausbreitender Streik in einen allgemeinen Aufstand fortentwickeln kann)
Roller sieht den sozialen Generalstreik zum einen abgegrenzt zu der politischen Aktivität in den parlamentarischen Körperschaften und zum anderen als Siedepunkt der befreienden direkten Aktion der proletarischen Massen: “Gegenüber der indirekten parlamentarischen Aktion, die dem Proletariat verspricht, den Kapitalismus durch den Parlamentarismus, durch die Eroberung der politischen Macht zu beseitigen, lehrt die revolutionäre ökonomische Taktik, den Kapitalismus durch die direkte Aktion des revolutionären, ökonomischen sozialen Generalstreiks zu vernichten und an deren Stelle die freie Gesellschaft zu errichten. So ist der soziale Generalstreik mit Expropriation (Enteignung) der höchste Ausdruck, die Krönung der direkten Aktion des Proletariats.” Das politische Kampfterrain wird bei Roller als ein indirektes und letztlich passives interpretiert. Daher rührt auch die syndikalistische Position, die in der politischen Revolution nur einen Austausch von (parlamentarischen) Machteliten sieht, so dass die sozialen und ökonomischen Fundamente unangetastet bleiben. Das bei dieser Sicht der Dinge die Potentiale eines politischen Massenstreiks (geflissentlich) übergangen werden, werden wir einige Zeilen weiter unten zeigen.
In der Gewerkschaftsdiskussion hat sich Roller mit seiner Broschüre zum Generalstreik eine volle Breitseite der Schelte abgeholt, die allerdings zu erwarten war: “Das ist”, so der Kollege Bömelburg, “ein so blühender Unsinn, in dem, was hier geschrieben ist, kommt soviel Unkenntnis zum Ausdruck, dass man darüber überhaupt nicht diskutieren kann”. Diese obligatorische Generalkritik zum Generalstreik aus gewerkschaftliche Sicht braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu interessieren, da sie ausschließlich davon getragen wird, das anarchistische Motiv in der Streikfrage runterzumachen.
Friedeberg gilt als ein weiterer Fürsprecher der Generalstreikidee. Interessant ist dieser Umstand deshalb, weil er dies im Rahmen seiner Mitgliedschaft der SPD tut. Dieser stand er Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend entfremdet gegenüber, da er in der starken Fixierung der SPD auf die parlamentarische Tätigkeit eine Diskrepanz zu dem offerierten Anspruch auf eine Revolutionierung der herrschenden Verhältnisse sah, der in (lauen) Resolutionen und Parteitagsbeschlüssen verlautbart wurde. Außerdem betrachtete er die sog. Neutralitätspolitik der SPD-nahen Freien Gewerkschaften als die Umsetzung einer staatsfreundlichen und kompromisslerischen Grundhaltung, die es durch eine gewerkschaftsoppositionelle Organisierung zu durchbrechen galt. Daraus resultierte seine Annäherung an die “Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften”, die die Keimzelle des deutschen Anarcho-Syndikalismus bilden sollte.
In seinem Beitrag “Parlamentarismus und Generalstreik” (1904), der gerne als eine Art “Kronzeugen-Text” in anarchistischen und syndikalistischen Kreisen gehandelt wird, gibt er die zentrale Orientierung für die gewerkschaftliche Bewegung aus: “(…), das, was der Gewerkschaftsbewegung den weiten Horizont und den Klassenkampfcharakter geben kann, das ist einzig und allein die Generalstreikidee”.
Das substantiell Neue am Generalstreik ist nach Friedeberg das ethische Postulat, das er sehr stark herausstreicht und das durch seine Hinwendung zu anarchoiden lebensreformerisch-tolstoianischen Ideen erklärbar sein dürfte: “Wenn die Arbeiter den Klassenstaat aber stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten, die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen, was niedrig und gemein an ihnen ist, alles, was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalstreikidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. Die politische Revolution, die früher angestrebt wurde, war nur zu verwirklichen auf dem Wege des Blutvergießens, der rohen Gewalt. Die Generalstreikidee ist ein ethisches Kampfmittel: die Verweigerung der Persönlichkeit, die gewährleistet ist im Koalitionsrecht, sie wird als Kampfmittel angewandt. Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind, wenn wir hungern – das werden wir heute nicht bestimmen, darüber werden wir uns die Köpfe nicht zerbrechen”.
Auffallend ist hier nicht nur der sehr beschränkte Begriff einer politischen Revolution, die nach Marx/Engels immer zugleich auch eine soziale ist und umgekehrt, nein, auffallend ist vor allem, dass sich nicht einmal vorbeugend der Kopf darüber zu zerbrechen ist, was im Falle des reaktionären Gegenangriffs an proletarischem Selbstschutz aufzufahren ist, um nicht unter die Räder, die stillgehalten wurden, zu kommen.
Da ist es auch kaum zufriedenstellend, dass Friedeberg den Gesetzesbruch äußerst vage ankündigt und bei einem nebulösen Ausblick verweilt: “Die Gesetze des Klassenstaates, die uns aufgezwungen sind, die werden wir dabei am wenigsten respektieren, und wer Not leiden wird, wird sicherlich nicht das Millionen umfassende proletarische Arbeitsheer sein, das seine Ketten zerbricht”. Zur Sprengung der kapitalistischen Ketten wird – so unsere Prognose – mehr gehören, als sich mit einem kantianischen Ethikverständnis zu “bewaffnen”.

Der soziale Generalstreik in der Kritik

Es wäre etwas zu vereinfacht und falsch, wollte man in allen Spektren des Anarchismus eine Unterstützung der praktisch gewordenen Idee des sozialen Generalstreiks behaupten. Errico Malatesta, der “Inbegriff” des italienischen Anarchismus, hielt den Generalstreik für “reine Utopie”: “Entweder kehrt der Arbeiter nach drei Tagen Streik mit knurrendem Magen und hängendem Kopf in die Fabrik zurück, und wir haben eine weitere Niederlage eingesteckt. Oder er versucht mit offener Gewalt die Früchte der Produktion an sich zu bringen. Wer wird ihm entgegentreten? Soldaten, Polizisten, vielleicht die Bürger selbst. Dann gilt es, die Frage mit Kugeln und Bomben zu lösen. Es wird der Aufstand sein, und siegen wird er Stärkere”. In dieser Position finden wir vor allem den Auftakt der Thematisierung des Verhältnisses zwischen (sozialem) Generalstreik und (bewaffnetem) Massenaufstand. Wir denken, dass sich hier die Komponente einer “revolutionären Realpolitik” Platz verschafft, die besagt, dass jeder proletarisch-klassenautonome Befreiungsversuch, der mit der Demontage des kapitalistisch-imperialistischen Systems einhergeht, einerseits mit den in Anschlag gebrachten (Waffen-)Arsenalen der Hüter und Beschützer der herrschenden Ordnung konfrontiert sein wird und andererseits eine (Re-)Aktionsfähigkeit entwickelt haben muss. Malatesta kann aber keineswegs als ein “Vorbeter der Gewalt” gelesen und verstanden werden, wie es das von uns eingebrachte Zitat vielleicht vermuten lassen würde. Ganz im Gegenteil, Malatesta hat in verschiedenen Aufsätzen betont, dass die revolutionäre Gewalt “in den Grenzen allerengster Notwendigkeit zu halten” ist.
Wenn man in eine Debatte des Generalstreiks eintritt, so kommt man nicht umhin, eine Person kurz zu streifen, die als Wegbereiter des italienischen Faschismus und des sog. National-Syndikalismus im franquistischen spanischen Staat gilt: Georges Sorel. Sorel interessierte an der syndikalistischen Theorie des Streiks weniger das sozialistische Etappenziel auf dem Weg zu einer egalitären und libertären Gesellschaftsform als vielmehr die (gewaltvolle) Aktion selbst, von der er eine Neuschöpfung und Befreiung von der degenerierten bürgerlichen Moral erwartete. Sorel hat den Generalstreik in die Scheinwelt des Mythos verlegt und seiner materialistischen Substanz beraubt. Die Heilserwartungen, die er an seine krude Theorie des Generalstreiks band, entsprach einem Kulturpessimismus, wie er den Verfechtern der konservativen Revolution eigen war. Der gewalttätige Exzess eines zum Putsch degradierten Generalstreiks ersetzt die kleinteilige Aktivität und revolutionäre Organisation, der Mythos des heroischen Aktes die Strategie der proletarischen Revolution.
Wir beabsichtigen nicht, dass durch die Erwähnung von Sorel die Generalstreikidee in irgendeiner Form als “proto-faschistisch” diskreditiert wird. Zu fragen bleibt hier – wie an unzähligen anderen Punkten auch -, wo in Ansätzen der revolutionären Linken Schnittmengen verborgen liegen, die von reaktionärer und/oder faschistischer Seite instrumentalisiert werden können.

Der politische Massenstreik

Die Massenstreikdebatten innerhalb der frühen Sozialdemokratie haben einen legendären Ruf. Diese lagen insbesondere in konfliktbeladenen sozialen und politischen Situationen förmlich in der Luft, als es darum ging, sozialdemokratische Aktivitäten von einem sozialreformerischen Weg in einen sozialrevolutionären Prozess umschlagen zu lassen. Förderer und Befürworter des politischen Massenstreiks befehdeten sich dabei leidenschaftlich. Einen Ausschnitt dieser Kontroversen wollen wir in den nächsten kleinen Abschnitten darstellen. Des weiteren werden wir die Positionen von VertreterInnen des politischen Massenstreiks zum sozialen Generalstreik streifen.

Der Massenstreik als “Gefahrenquelle” gewerkschaftlicher Organisationsentwicklung

Wir haben zum Beginn des vorangehenden Abschnitts erwähnt, dass wir auf den Konservatismus und die Diskussion innerhalb der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung, namentlich zwischen dem gewerkschaftlichen und den parteipolitischen Zweig, jetzt noch einmal knapp eingehen wollen.
In der tendenziösen Gewerkschaftsdiskussion, die sich insbesondere auf dem Gewerkschaftskongress von 1905 in Köln niedergeschlagen hat, werden die verschiedenen Streikarten nicht sonderlich inhaltlich voneinander getrennt. Das hat vor allem damit zu tun, um den politischen Massenstreik in die Nähe des anarchistischen sozialen Generalstreiks rücken zu können. Im Grunde sollte der Massenstreik als Synonym des Generalstreiks stigmatisiert werden. Wenn der Massenstreik sozusagen ein Abklatsch, nur eine begriffliche Finte des Generalstreiks ist, dann ließen sich die Vorbehalte, die gegenüber den AnarchistInnen und SyndikalistInnen vorgebracht wurden, mühelos auf  den  linken  Flügel  der  sozialdemo-

kratischen ArbeiterInnenbewegung übertragen.
Gegen diese Synonymisierung hat sich z.B. Henriette Roland-Holst, eine der damals bekanntesten VertreterInnen der deutsch-holländischen Linken, gewandt: “Aber der politische Massenstreik stellt sich nicht das unmögliche Ziel, die kapitalistische Gesellschaft ‘auszuhungern’. Wer ihn deswegen bekämpft, bekämpft nur eine irrige Vorstellung, die sich in seinem Kopfe infolge der Verwechslung des politischen Streiks mit dem ökonomischen Generalstreik bildete; durch seinen Druck versucht er nicht, die Gesellschaft aufzureiben, sondern die politischen Machthaber zum Weichen zu bringen”. Mit dieser Aussage zielte sie speziell gegen eine bestimmte Richtung in der Gewerkschaftsdiskussion, die versuchte, konzeptionell unterschiedliche Streikarten als faktisch identische hinzustellen. Dennoch ist in dieser Ausführung Roland-Holsts das etwas gequälte Bemühen zu beobachten, durch begriffliche Nuancen einen qualitativen Unterschied zwischen Massen- und Generalstreik zu fixieren, um den “Verdacht” des Anarchismus präventiv zu entkräften.
In den Köpfen der Gewerkschaftsoberen spiegelte sich wider, dass sich die Gewerkschaften, die in ihren Anfängen zahlenmäßig weit hinter der sozialdemokratischen Partei lagen, in ruhigen gesellschaftlichen Verhältnissen personell und organisatorisch erheblich stärken und ausbauen konnten. An Mitgliederzahlen konnte die Partei zu Zeiten der Massenstreikdebatten längst von den Gewerkschaften überflügelt werden. Damit verschoben sich naturgemäß die Gewichte innerhalb der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung. Und alles, was als vermuteter oder vermeintlicher Störfaktor dieser Entwicklung schaden könnte, wurde argwöhnisch beäugt und abgelehnt.
Ein politischer Massenstreik konnte nur ein Ausdruck einer zugespitzten gesellschaftlichen Situation sein, der das ruhige Fahrwasser durch hohe Wellengänge stört. Deshalb wurde betont, dass der weitere solide und unaufgeregte organisatorische Aufbau der Gewerkschaften der beste Garant dafür sei, die Reaktion kleinzuhalten, so kleinzuhalten, dass über den Weg beständiger sozialer Reformen ein politischer Massenstreik nicht mehr erforderlich sei.
Der deutsch-holländische Links- bzw. spätere Rätekommunist Anton Pannekoek hat sich mit dem Entwicklungsprozess des “gewerkschaftlichen Wesens” beschäftigt und die nahezu folgerichtige Erstarrung des Gewerkschaftsapparats nachgezeichnet: “Die Gewerkschaften bilden unter dem Kapitalismus die natürlichen Organisationen für den Zusammenschluss des Proletariats (…) Im entwickelten Kapitalismus und noch mehr in dem imperialistischen Zeitalter sind diese Gewerkschaften stets mehr zu riesigen Verbänden geworden, die die gleiche Tendenz der Entwicklung zeigen, wie in älterer Zeit die bürgerlichen Staatskörper selbst. In ihnen ist eine Klasse von Beamten, eine Bürokratie entstanden, die über alle Machtmittel der Organisation verfügt: die Geldmittel, die Presse, die Ernennung der Unterbeamten; oft hat sie noch weitergehende Machtbefugnisse, so dass sie aus Dienern der Gesamtheit zu ihren Herren geworden ist und sich selbst mit der Organisation identifiziert”.

Der politischen Massenstreiks in der sozialdemokratischen Diskussion

Auch wenn es unser Interesse ist, die gemeinsamen Komponenten des sozialen Generalstreiks und des politischen Massenstreiks herauszufiltern, so geschieht das allerdings ohne den Hintergedanken, das vermeintlich “Anarchistische” in der Streikfrage zu denunzieren. Ganz im Gegenteil, eingangs hatten wir uns ja durchaus als AnhängerInnen des “anarchistischen Streikterrorismus” geoutet, um das mit einem gewissen Augenzwinkern nochmals zu betonen.
Als Faustregel darf aufgestellt werden, dass zwar nicht jeder politische Massenstreik die “Machtfrage” bis in jede Konsequenz stellt, aber eine revolutionäre Eruption, die die bisherigen gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse von Ausbeutung und Unterdrückung umzuwälzen beginnt, ist ohne massenhaftes Streiken kaum denkbar. Der politische Massenstreik wurde immer dann virulent, wenn sich tiefe Umbrüche abzeichneten bzw. gesamtgesellschaftliche Turbulenzen im Gange waren. Massenstreik und sozio-ökonomische Verschiebungen standen in einem mehr oder minder direkten Wechselverhältnis; dies lässt sich demzufolge auch an den Diskussionen um den Massenstreik früherer Jahrzehnte recht anschaulich ablesen.
Die Massenstreikdebatten, die im Zusammenhang mit der russischen Revolution von 1905 (Bildung des Petersburger Sowjets), der preußischen Wahlrechtskampagne 1910 und kurz vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg 1913/14 innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zum Teil recht heftig ausgetragen wurden, halten also auch für heutige Kontroversen ein spannendes und interessantes Anschauungsmaterial bereit. Es würde allerdings den Rahmen dieses Info-Textes völlig überdehnen, wollten wir die einzelnen Debatten um Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen von politischen Massenstreiks in allen Details wiedergeben. Es muss an dieser Stelle reichen, wenn wir ein paar Grundlinien der Diskussionen aufrollen, aber auch nur solche, die wir für heutige Anschlüsse als wichtig ansehen.
Zu diesem Anschauungsmaterial gehört, dass wir auf Personen stoßen, die einen zumeist prominenten Platz in der Geschichte der frühen Sozialdemokratie einnehmen und noch heute Bezugsquellen für die revolutionäre Linke darstellen: Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek sind da zuvorderst zu nennen. Jene mussten vor allem Stellung gegen zentristische (Karl Kautsky) und revisionistische (Eduard Bernstein) Anschauungen hinsichtlich des politischen Massenstreiks und seiner Durchführbarkeit beziehen. Die Massenstreikdebatten waren vor allem ein Meinungsstreit innerhalb der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung, die sich, wie bereits beschrieben, in den Gewerkschaften und in der SPD als (parlamentarische) Partei organisierte. Und wenn wir diese Zweiteilung anhand der Massenstreikdebatten deutlich machen wollen, dann kann – vereinfacht gesagt – bei den Gewerkschaftsfunktionären eine (offenkundige) Ablehnung des politischen Massenstreiks festgemacht werden. Bei der SPD(-Führung) um August Bebel kann von einer eher aufgeschlossenen Position gegenüber dem massenhaften Ausstand gesprochen werden, die aber reservierter wird, wenn es um die tatsächliche Praxis geht.
Diese Position spiegelt sich u.a. in dezent gehaltenen Parteitagsbeschlüssen in Jena 1905 und Mannheim 1906 wider. Die auf dem Jenaer SPD-Parteitag beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten proletarischen Kampfmittel, beschränkte allerdings die Ausrufung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des parlamentarischen Reichstagswahlrechts und des gewerkschaftlichen Koalitionsrechts.
Der Generalstreik galt der Sozialdemokratie als ein anarchistisches Allheilmittel und war von daher in ihren Reihen diskreditiert. Diese Haltung beeinflusste auch die zwiespältige Position zum Massenstreik. In den Spitzen der SPD hegte man die Befürchtung, die reaktionären Fraktionen in der staatlichen Bürokratie könnten einen allgemeinpolitischen Streik zum (willkommenen) Anlass nehmen, einen Staatsstreich zu inszenieren und die proletarischen Organisationen zu zerschlagen. Für diese Befürchtung lag durchaus ein realer Hintergrund vor: das Sozialistengesetz, das von 1878 bis 1890 aufgrund einer mehrmaligen Verlängerung existierte, verbot die parteipolitische Betätigung der SPD in der Öffentlichkeit gänzlich. Lediglich die Reichstagsfraktion konnte bestehen bleiben. Dieses Gesetz markierte einen eklatanten Einschnitt in der Geschichte der noch jungen aufsteigenden sozialdemokratischen Opposition im preußisch-dominierten Kaiserreich unter Wilhelm I.
Hinzu kommt, dass es eine Fehlinterpretation ist, selbst der frühen Sozialdemokratie, die 1875 aus den Anhängern Ferdinand Lassalles (ADAV) und jenen um August Bebel und Wilhelm Liebknecht (SDAP) hervorgegangen war, einen zu dick aufgetragenen revolutionären Anstrich zu geben. Der Tenor “Die Regierung soll an unserer Gesetzlichkeit zugrunde gehen”, der während des Sozialistengesetzes ausgegeben wurde, war nicht allein taktischer Natur. Dieser spiegelt vielmehr das Grundverständnis der SPD-Spitze (und sicherlich auch breiter Teile der Parteibasis) wider, dass sich die SPD mehr als eine sozialreformerische Partei denn als eine sozialrevolutionäre begriff. Von daher ist es auch eine kaum belegbare These, von einer “frühen revolutionären Sozialdemokratie” und einer “späteren reformistischen” zu sprechen.
Mangels organisatorischer Alternativen sammelten sich auch die fundamentaloppositionellen Kräfte anfangs in der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung, bis es aufgrund unüberbrückbarer Gegensätze zu einer deutlichen Ausdifferenzierung der Linken kam. Diese Oppositionskreise bildeten bereits kurz nach dem Ende des sog. Sozialistengesetzes die ersten organisatorischen Verbindungen, die unter der Bezeichnung “die Jungen” in die sozialdemokratische Geschichtsschreibung eingegangen sind. Die VertreterInnen dieser Strömung votierten für einen wesentlich agileren Einsatz von Streiks und anderen Klassenkampfmaßnahmen. Das brachte ihnen parteiinterne Sanktionen ein; die ideologische Bekämpfung des “anarchistischen Auswuchs” in den sozialdemokratischen Organen war da nur ein “Stilmittel” der Diskreditierung.

Der Clinch zwischen Karl Kautsky und Rosa Luxemburg

Leidenschaftliche “Duelle” lieferten sich insbesondere Kautsky und Luxemburg, der Pannekoek zur Seite sprang, in der Debatte von 1910. Worum ging es im Kern?  Zentraler Punkt der Auseinandersetzung war, ob eher auf eine Ermattungs- oder auf eine Niederwerfungsstrategie gegenüber den Fraktionen von Staat und Kapital gesetzt werden sollte, um das ausgegebene Streikziel erreichen zu können. Im ersten Falle sollte das alte Regime durch Wahlerfolge und Parlamentssitze förmlich zermürbt und ausgehöhlt werden; im zweiten Falle sollte durch eine massenhafte Mobilisierung des Proletariats in Etappen auf eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung hingewirkt werden.
Kautsky legt diesen parteipolitischen Konflikt innerhalb der Sozialdemokratie wie folgt aus: “Die Ermattungsstrategie unterscheidet sich von der Niederwerfungsstrategie nur dadurch, dass sie nicht, wie diese, direkt auf den Entscheidungskampf losgeht, sondern ihn lange vorbereitet und sich ihm erst dann stellt, wenn sie den Gegner genügend geschwächt weiß”. Als Ermattungsstrategie bezeichnet Kautsky jenes Vorgehen, das seit den 1860er Jahren verfolgt wurde und zu einer beständigen Stärkung der Kräfte der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung und einer beständigen Schwächung jener der Reaktion führte, “ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind”.
Rosa Luxemburgs Hauptargument richtet sich dagegen, den Massenstreik in den Bereich einer utopischen Revolutionsvorstellung zu verbannen, in der dieser nicht mehr als Taktik revolutionärer (Real-)Politik begriffen werden kann. Sie hebt hervor, dass es nicht, wie Kautsky meinte, um die Richtigkeit der “Ermattungs- oder der Niederwerfungsstrategie ginge, sondern um die Bestimmung der der bestehenden Situation angemessenen politischen Intervention vor dem Hintergrund einer verfolgten Strategie.  “Die Aufgabe der Klassenpartei des Proletariats” ist es, “durch eigene Tatkraft den Gang der Dinge zu beschleunigen, nicht das Minimum, sondern das Maximum an Aktion und Klassenkampf in jedem Moment auszulösen”. Rosa merkt an, dass “‘die Theorie’ nicht bloß langsamer ‘vorwärts schreitet’ als die Praxis, sie macht leider zuweilen auch noch Purzelbäume nach rückwärts”. Und außerdem muss “klar sein, dass eine wirkliche Massenaktion großen Stils sich nur dann entfachen und auf die Dauer erhalten lässt, wenn man sie nicht als eine trockene Exerzierübung nach dem Taktstock der Parteileitung behandelt, sondern als einen großen Klassenkampf, in dem alle bedeutenden wirtschaftlichen Konflikte ausgenutzt, alle Momente, die die Massen erregen, in den Strudel der Bewegung geleitet werden müssen und in dem man nicht einer steigenden Verschärfung der Situation und entscheidenden Kämpfen ausweicht, sondern ihnen mit einer entschlossenen konsequenten Taktik entgegentritt”.
Für Rosa war die Hauptsache, “dass die Massen sich mit der Frage des Massenstreiks befassen und dazu Stellung nehmen. Den Zweck ihrer publizistischen Tätigkeit, das (faktische) “Verbot der Diskussion über den Massenstreik namentlich auch in unserem theoretischen Organ, der ‘Neuen Zeit’, zu durchbrechen”, konnte sie erreichen. Das war die Voraussetzung, um von etwaigen gesellschaftlichen Begebenheiten nicht überrumpelt zu werden, um nicht blindlings, nicht unter Affekt, sondern vollends bewusst mit sicherem Gefühl der eigenen Kraft und möglichst massenhaft den Streikkampf aufnehmen zu können. In diesem Sinne hat die Massenstreikdebatte die Funktion der klassenpolitischen Aufklärung und der organisatorischen Vorbereitung.
Typisch für Kautsky und Vertreter der Gewerkschaftsvorstände war die Meinung, dass man über den Massenstreik zwar – unter Anleitung in Kautskys “Die Neue Zeit” – diskutieren könne, die Praxis jedoch einer nicht näher zu bestimmenden Zukunft überlassen bleiben müsse. (Wobei in Gewerkschaftskreisen, wie wir gesehen haben, selbst ein folgenloses Diskutieren des politischen Massenstreiks unerwünscht war und zuweilen unterdrückt wurde) Der Massenstreikidee könne, so die kautskyanische Lehre, praktische Folgen vor der eigentlichen Praxis haben, in dem das proletarische “Kräftebewußtsein” die bourgeoise Klasse davon abhält, Unfug zu veranstalten. Statt der Anwendung proletarischer Kampfmittel ging es Kautsky um das demonstrative Fahneschwenken, er hielt am “theoretisch-passiven Radikalismus” fest. Der Massenstreik blieb hiernach in der Sphäre der Idee verfangen; ähnlich wie bei Hilferding (Massenstreik als “regulative Idee”) wurde er zum geistesgeschichtlichen Phänomen verklärt.
Kautskys Haltung in der Massenstreikdebatte war bestimmt durch sein Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, sein Bemühen, die ideologische Konflikte in der proletarischen Bewegung nicht ausbrechen zu lassen, und seine erklärte Zurückhaltung gegenüber politischen Massenaktionen, die ein Risiko für die gedeihliche Ausdehnung der proletarischen Organisationen hätten bedeuten können. Das musste zwangsläufig dazu führen, dass den Worten nichts Konkretes folgte, da der Einwand, dass “jetzt nicht die Zeit für einen Massenstreik sei” immer schnell erhoben werden konnte.  Zugespitzt formuliert die Genossin Luxemburg, dass sich mit der wortreich vorgetragenen “Ermattungsstrategie” Kautskys “nicht bloß keine große politische Massenaktion führen (lässt), sondern nicht einmal eine gewöhnliche Gewerkschaftsbewegung”.
Rosa trennt sich von der allzu mechanischen Auffassung vom Massenstreik, wonach dieser eine gut vorbereitete einmalige Aktion zur politischen Machtübernahme oder zur Erreichung eines niedriger gehangenen politischen Ziels sei. Dagegen zeigt sie auf, dass der Massenstreik ein Prozess ist; er ist kein beliebiges revolutionäres Mittel, sondern die Revolution selbst, nicht der bloße Einsatz der gewonnenen ökonomischen Macht der proletarischen Massen zur Verwirklichung bestimmter politischer Nah- und Teilziele, sondern machtvoller Ausdruck der untrennbaren Einheit des wirtschaftspolitischen Kampfes.

Zur Abgrenzung zum sozialen Generalstreik

Die Abgrenzung von VertreterInnen der Linken in der deutschen und internationalen Sozialdemokratie gegenüber dem Gedanken des sozialen Generalstreiks waren zum Teil mit einem deftigen Vokabular versehen. Von revisionistischen und zentristischen Lautsprechern war dies ja zu erwarten. So mokierte sich Kautsky darüber, dass die “anarchistischen Generalstreikler die Arbeiterschaft von der Beteiligung an Wahlkämpfen und an parlamentarischer Betätigung abzuhalten (suchten)”, aber etwas überraschend kommen da schon die O-Töne von GenossInnen, die wir sehr schätzen.
Anton Pannekoek sah zumindest in seiner aktiven Zeit innerhalb der deutschen und holländischen Sozialdemokratie im Syndikalismus eine bürgerliche Tendenz in der Gewerkschaftsbewegung und verurteilte die “revolutionäre Gymnastik” in der syndikalistischen Praxis des Streiks: “Diese angeblich revolutionäre Praxis ist nicht imstande, die Masse der noch unbewußten Proletarier zu Massenorganisationen zusammenzubringen, denn dazu ist allein ein beharrlicher Kampf, der nur die kleinen, allmählichen Verbesserungen ins Auge fasst, imstande. Sie setzt für die Arbeiter, die sich ihr anschließen, eine revolutionäre Gesinnung voraus, die nur das schließliche Resultat einer langen Praxis sein kann. Die Gewerkschaften bleiben kleine Gruppen revolutionär empfindender Arbeiter, deren feuriger Mut nicht die Schwäche der Organisation zu ersetzen vermag. Das Wachstum, das dann und wann stattfindet, wird nicht durch eine feste Zentralisation festgehalten. Die Gewerkschaft bleibt, weil sie sich einer anderen Funktion als ihrer eigenen anzupassen versucht, der Funktion einer politischen Partei, unfähig, ihre eigene Funktion, die Verbesserung der Arbeiterverhältnisse, gut auszuüben. Was sie für die Revolution gut leisten könnte, die Organisation der Masse, leistet sie nicht, und was sie zu leisten versucht, die revolutionäre Erziehung, macht sie verkehrt”.
Eine weitere Vertreterin der deutsch-holländischen Linken, Henriette Roland-Holst, spricht hinsichtlich des syndikalistischen Generalstreikverständnisses von der Gefahr eines “ökonomischen Blanquismus”. Für die gewerkschaftliche Praxis sei der soziale Generalstreik deswegen verhängnisvoll, weil das Ziel eines Generalstreiks der Minderheit die tägliche organisatorische  Kleinarbeit unter den proletarischen Massen vernachlässigen muss. Diese Argumentation, die auch noch die “ökonomische Seite” des “Blanquismus” erfinden will, fällt besonders einfältig aus. Roland-Holsts durch Karl Kautsky inspirierte Schrift “Generalstreik und Sozialdemokratie” (1905) zeichnet sich u.a. durch eine verzerrte Darstellung der (anarcho-)syndikalistischen Gene
streikidee aus. In dieser wird weniger auf den tatsächlichen Inhalt des generellen Ausstands eingegangen, als vielmehr ein Abgrenzungsritual kultiviert, was zum schlechten Ton sozialdemokratischer Schriften seinerzeit gehörte.
Rosa Luxemburg wirft den AnhängerInnen der anarchistischen und syndikalistischen Generalstreiktheorie vor, dass sie den Generalstreik, der unter bestimmten sozio-ökonomischen Bedingungen sehr wohl ein geeignetes Instrument sein könne, zu einer abstrakten, absoluten und damit auch utopischen Kategorie verballhornt haben. Und lediglich gegen diese “absolute, anarchistische Theorie des Generalstreiks richtete sich tatsächlich die Kritik des wissenschaftlichen Sozialismus. Und lediglich gegen sie konnte sie sich auch richten”. An anderen Stellen greift Luxemburg in ihren Texten zu drastischeren Formulierungen gegenüber der Generalstreiktheorie der AnarchistInnen und SyndikalistInnen, auf die wir hiermit zumindest indirekt hinweisen wollen.

“Der Streik als Schlacht” und Kampfmittel der revolutionären Linken

Leicht erregbare Gemüter werden vermutlich ob der Sprachregelung “Streik als Schlacht” eine Menge Schweißtropfen produzieren. Wir kommen da gern zum Tupfen der Stirn. Damit sich der Erregungszustand legen kann, gehen wir gleich dazu über, diesen Schlagwortsatz ganz seriös zu hinterfragen.
Aus dem Streik erwuchsen, bevor er zum Mittel einer “Schlacht” werden konnte,  “schöpferische Urgewalten”, aus denen wiederum der organisatorische Aufbau von proletarischen Vereinigungen hervorging, die nicht nur kampffähig waren, sondern vor allem eine Kontinuität in der Auseinandersetzung mit den Kapitalfraktionen auf der anderen Seite der Barrikade wahren konnten. “Der Streik wird, nachdem der Kapitalismus die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Entstehung der Gewerkschaftsbewegung herbeigeführt hat, eine der schöpferischen Urgewalten, aus denen die Gewerkschaften hervorgehen. Der Streik erfährt in diesem Stadium seiner eigenen Geschichte eine Steigerung seiner historischen Bedeutung, denn er, der bis dahin stets aufflammte und versank, ohne dauernde Wirkungen zu hinterlassen, wird nun zu einer Quelle menschheitsgeschichtlich wirkender Kräfte von dauerndem Bestande”, so der “Gewerkschaftstheoretiker” Richard Seidel.

Die Streik-Schlacht

Der Ausruf “Der Streik als Schlacht” ist weit mehr als ein sinnentleerter Slogan. Dieser Ausruf geht auf eine Vortragsreihe zurück, die der damalige Vorsitzende der Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI), A S. Losowsky, 1930 vor der Internationalen Lenin-Schule in Moskau gehalten hat. Das proletarische Kampfmittel setzt er dabei in Beziehung zu militärtheoretischen Ausführungen von Carl v. Clausewitz, der vor allem durch seine Aussage “Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln” einen “Weltruhm” erlangte. Auf Clausewitz beziehen sich sowohl Lenin als auch Mao, der diesen über die Lenin-Lektüre kennen lernte.
“(…) der Streik (ist)”, so Losowsky, “eine Form des Klassenkampfes, (…) darum ist es zweckmäßig, den Streik und die Methoden des Streikkampfes von demselben Standpunkte aus zu betrachten, wie man den Krieg erforscht”. Da der Streik als ein konkreter Klassenzusammenstoß verstanden werden kann, lassen sich Parallelen zwischen der Taktik des politischen Massenstreiks und der Kriegstaktik ziehen. So schreibt Losowsky: “Als Illustration dazu wollen wir eine gewisse Analogie zwischen dem Streik und dem Zusammenstoß zweier Armeen aufstellen, um darzutun, innerhalb welcher Grenzen die auf dem Kriegsgebiete aufgespeicherten Kenntnisse ausgewertet werden können und müssen, damit sie in der Führung der Streikkämpfe Anwendung finden”. Allerdings relativiert Losowsky diese Parallelisierung dahingehend, dass “sich der Streik nicht mit einem Krieg überhaupt, sondern (am ehesten) mit dem Bürgerkrieg vergleichen (ließe)”, sozusagen mit einem innerstaatlichen Klassenkrieg.
“Liegt hier kein Versuch vor, die konkrete taktische Aufgabe, mit der wir hier zu tun haben, in kriegstechnischer Terminologie und abstrakten Ausführungen zu ertränken?”, fragt Losowsky selbstkritisch nach. Diese Frage wird postwendend verneint, indem Bezug genommen wird auf  die bewährten Prinzipien eines bewaffneten Aufstands, die Lenin von Marx und Engels übernommen und erweitert hat. Eines dieser Prinzipien, das sich auch auf den Streikkampf angepasst anwenden lässt, ist, dass “niemals mit dem Aufstande gespielt werden (darf), und sobald derselbe begonnen hat, muss man wissen, dass es gilt, bis zu Ende zu gehen”. Hierdurch wird der “Offensivcharakter” von politischen Streiks, die ein Aufstandsmoment sind, unterstrichen. “Nicht jede Niederlage ist wirklich eine Niederlage”, so Genosse Losowsky. Und weiter meint er: “Es gibt Niederlagen, die günstiger sind als Kapitulation ohne Kampf. Und wer glaubt, dass Kämpfe ohne Risiko geführt werden können, dass man ohne jedes Risiko, ohne Verluste damit rechnen kann, die Bourgeoisie zu besiegen, der ist hoffnungslos dumm, von dem hat die kommunistische Bewegung nichts zu erwarten (…) Das Risiko ist ein untrennbarer Bestandteil jedes Kampfes”.
Es wäre selbstredend ebenso dumm, dieses Prinzip in der Form zu dogmatisieren, dass es a-historisch und völlig entkoppelt von spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen umgesetzt werden müsste. Einen taktischen Rückzug einzuleiten, ist dann in prekären Situationen richtig, um nicht unnötig Kräfte zu vergeuden und “aufgeraucht” zu werden. Es gilt also, die Fähigkeit zu erlernen, manövrieren zu können.
Auch wenn kriegswissenschaftliche Elemente in der praktisch gewordenen Streiktheorie einfließen, besagt das aber keinesfalls, dass der kämpfenden Klasse eine militärische Zwangsdisziplin auferlegt werden soll. Dieser Kasernenhofmentalität ist laut Losowsky “die freiwillige Disziplin und Selbsttätigkeit des klassenbewußten Kämpfers entgegenzustellen”. Nur auf dieser Ebene lässt sich mobilisieren, die AnhängerInnenschaft vergrößern und Massenaktionen organisieren.
“Die Arbeiterklasse hat es”, so wirft Losowsky in diesem Zusammenhang mahnend ein, “mit einem vorzüglich organisierten Gegner zu tun.” Um diese organisatorischen Schwächen gegenüber den Agenturen von Staat und Kapital auszugleichen, “müssen (wir) das alles durch das Klassenbewusstsein, durch gute Organisierung und durch zielbewußte Einstellung der Arbeiterklasse zum Kampf wettmachen”.  Ohne diese Elemente wird jeder durch einen Streik  bzw. durch eine Streikwelle ausgelöste proletarische Aufstandsversuch zu einem lauen Strohfeuer; entweder es erlischt nach kurzer Zeit von selbst, oder es wird ohne große Gegenwehr einfach ausgetreten.
Mit der Kriegsmetapher hinsichtlich des Streiks zu arbeiten, ist weithin kein “Vorrecht” der Bolschewiki. Bereits 25 Jahre vor dieser Losowsky-Vortragsreihe führte Henriette Roland-Holst in ihrem erwähnten Text “Generalstreik und Sozialdemokratie” folgendes aus: “Der Streik als Form der Revolution nimmt selbstverständlich viel heftigere, entschiedenere Formen an, wie die Demonstrationsstreiks sowie die in gesetzlichen Schranken vor sich gehenden Pressionsversuche der letzten Jahre in West-Europa. Für die kämpfende Arbeiterschaft steht ja beim Revolutionsstreik alles auf dem Spiel; für die Gewinnung einer neuen Staatsordnung wagt sie Freiheit und Leben. Der Streik ist in solchem Falle eine neue, der entwickelten, kapitalistischen Produktionsweise und dem modernen Proletariat angepaßte Form des Bürgerkriegs, in dem sich die offene Brust und das ungeschützte Herz der bewaffneten Militärmacht gegenüberstellen. Nur die Einsicht, durch Gewalt nicht siegen zu können, hält das Proletariat vom bewaffneten Aufstand zurück. Wo aber Gewalt die Erreichung des Ziels, den Sturz der Staatsgewalt, näher bringen kann, zaudert das Proletariat nicht, sie zu gebrauchen. Daher die Plünderungen und Brandstiftungen der dem Staat gehörenden Magazine und Branntweindepots, die Beschädigung der Telegraphen und Telephons, die Sprengversuche der Eisenbahnbrücken usw. Der revolutionär-politische Streik bedeutet keineswegs ausschließlich die Methode der Passivität, die Revolution der gekreuzten Arme, sondern die Anwendung der ökonomischen Macht der Arbeiterklasse als Hauptmittel – dem alle andern Mittel untergeordnet sind -, zur Desorganisation der Gesellschaft und des Staates”.
Selbst der Vorreiter des revisionistischen Flügels der Sozialdemokratie, Eduard Bernstein, kommt in seiner Streikschrift (1905) nicht ohne eine Kriegsmetaphorik im Zusammenhang mit einem Streikkampf aus: “Der Streik ist in seiner Weise ein Krieg, und wenn er auch in der Regel unblutiger Krieg ist, so erweckt er doch in genügendem Maße die Leidenschaften, um gegebenenfalls nicht ohne gewalttätige Zusammenstöße auszugehen”. Bernstein verlegt vorzugsweise das Kriegerische des Streiks in Regionen der Welt, in denen das “Kulturniveau” der Arbeitenden niedrig ist und Temperament der Ratio vorangeht. Und Bernstein wäre nicht der Produzent von revisionistischen Seifenblasen, hätte er nicht noch in petto, dass unter den Bedingungen der politischen Demokratie die Waffe des politischen Massenstreiks entbehrlich wird.
Wir haben gesehen, dass der “Streik-Kampf-Krieg”-Kontext quer durch alle Fraktionen der revolutionären Linken geht und dass selbst der sozialreformerisch-revisionistische Flügel darauf in seinen Interpretationen zurückgreift. Das zeigt erst einmal nur den “Verbreitungsgrad” der Kriegsmetaphorik in der Streiktheorie und -praxis und sagt noch nicht so viel über den jeweils damit verbundenen Inhalt, der sich, wie wir auch feststellen konnten, doch arg unterscheidet.

Der Streik als Etappe zum (Massen-)Aufstand

Der Streik ist vor allem als ein zentrales Element eines Aufstands zu verstehen, der von den proletarischen Massen getragen sein muss, damit er nachhaltig und letztlich erfolgreich sein kann. “Die Arbeiterbewegung”, so Lenin in einem Artikel, “hat der ganzen russischen Revolution ihren Stempel aufgedrückt. Mit vereinzelten Streiks beginnend, entwickelte sie sich rasch einerseits bis zu Massenstreiks, anderseits bis zu Straßendemonstrationen. Im Jahre 1905 erscheint der politische Streik bereits als voll entwickelte Form der Bewegung und schlägt vor unseren Augen in den Aufstand um”.
Und im Text über den Partisanenkampf beschreibt Lenin, wie sich die Widerstandsfront von Massenstreiks über den bewaffneten Aufstand in einen regelrechten Bürgerkrieg gegen die zaristische Autokratie und für eine radikal-demokratische und sozialistische Revolution entwickelt, um letztlich die (kurzweilige) Rätemacht von 1905 zu etablieren: “Das Anwachsen des Aufstands, die Ausweitung des Kampfes, die Verschärfung seiner Formen vollziehen sich ununterbrochen vor unseren Augen. Das Proletariat ganz Rußlands bahnt sich in heroischen Anstrengungen seinen Weg, bald hier, bald dort andeutend, in welcher Richtung sich der bewaffnete Aufstand entwickeln kann und zweifellos entwickeln wird. Gewiß, auch die jetzige Form des Kampfes, die durch die Bewegung der Arbeitermassen bereits herausgebildet worden ist, versetzt dem Zarismus die ernstesten Schläge. Der Bürgerkrieg hat die Form eines erbittert-hartnäckigen und allerorts vor sich gehenden Partisanenkrieges angenommen”.
Es hat sich geschichtlich gezeigt: Der Streik kann die Einleitung, der erste Schritt einer revolutionären Massenaktion, des Aufstands sein, wie sich auch immer der weitere Fortgang abspielen mag. Er ist zudem die einzige Aktionsform, die potentiell alle Segmente der proletarischen Klassen aufrüttelt und in die Protestbewegung hineinzieht, weil er es allen ermöglicht, gegenüber dem wirtschaftlichen und sozialen Druck des Kapitals, der die tagtägliche Realität für Millionen Lohnabhängige und Deklassierte ist, ihre Forderungen und damit ihre Stimme zu erheben. Und ohne die bewusste Verletzung der reformistischen Gewerkschaftsdisziplin und ohne die selbständige klassenautonome Streikkoordinierung hätten sich nicht nur die Fraktionen des stets gut aufgestellten Kapitals bspw. mit ihren Lohnsenkungen oder Entlassungen leicht durchsetzen können; nein, vor allem hätte sich ein Streik nie als Funken eines sozialrevolutionären Flächenbrandes ausweiten können, der den Nährboden für eine neue egalitäre und libertäre Gesellschaftsform hinterlässt.
Auch von anarchistischer Seite ist die Frage aufgeworfen worden, wie ein Streik, der nicht nur für die Erfüllung eines eng umgrenzten Forderungskatalogs geführt wird, Teil und Auslöser eines in die Fläche gehenden Aufstands sein kann. Für Malatesta ist bspw. der Generalstreik als alleiniges Kampfmittel einer Gesellschaftsumwälzung unzureichend und er stellt die Grundfrage, ab wann sich ein (flächendeckender) Ausstand faktisch totläuft, wenn er nicht in einen generellen Aufstand überführt werden kann. Der wunde Punkt ist klar umrissen: “Das Unglück war jedoch”, so Malatesta, “daß die meisten im Generalstreik nicht ein Mittel sahen, um die Massen zur Insurrektion (Aufstand) zu bewegen, das heißt zur gewaltsamen Zerschlagung der politischen Macht und Inbesitznahme von Grund und Boden, Produktionswerkzeugen und allem gesellschaftlichem Reichtum, sondern einen Ersatz für die Insurrektion, eine Möglichkeit, ‘die Bourgeoisie auszuhungern’ und sie ohne Blutvergießen zur Kapitulation zu zwingen”.
Im großen und ganzen ist schon deswegen der Mangel an Gewalttätigkeit ein Merkmal des proletarischen Klassenkampfes um Klassenautonomie, weil die AktivistInnen nicht im Ansatz über jene kriegerischen Ressourcen verfügen, wie die repressiven Staatsapparate mit ihrer Polizei und Armee.
Richtig ist dennoch, dass an dieser Stelle die Metapher von der “Militarisierung der Streik(-Idee)” zu problematisieren ist. Dies erinnert ein Stück weit daran, als Leo Trotzki kurz nach dem erfolgten Oktoberumsturz mit der “Militarisierung der Arbeit” die produktiven Grundlagen in der durch den Bürger- und Interventionskrieg zerrütteten nach-zaristischen Ära aufbauen wollte. (U.a. entzündete sich daran eine lebhafte Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften in der Frühphase Sowjetrusslands, das ums Überleben ringen musste)

Die proletarische (Einheits-)Organisation und der (Massen-)Streik

Nun stellt sich berechtigterweise die Anschlussfrage danach, wie sich Streiks so verbreitern und koordinieren lassen, dass sie den Keim des allgemeinen und umfassenden (Massen-)Aufstands aufgehen lassen. Dieser Aufstand wird, sofern er bis zu seiner Zielvorstellung einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft durchdringen will, Ausdruck einer bewaffneten Massenlinie sein müssen. Es handelt sich hier weithin um keine rein technische Angelegenheit, sondern elementar um die kombiniert inhaltlich-praktisch-organisatorische, wie den ideologischen und repressiven Staatsapparaten mit ihrem exzellent gefüllten Waffenarsenal entgegengetreten werden kann, wenn man sich die geschichtliche Trivialität vor Augen führt, dass “die Herrschenden” davon reichlich Gebrauch machen werden, falls sie mit dem Rücken zur Wand stehen – spätestens dann. Gedanklich schließen wir hier also an die im vorangegangenen Abschnitt ausgeführten Überlegungen an, wonach der Streik Elemente “einer Schlacht” beinhaltet.

Arbeiterunion, Klassenkampfpartei und bewaffneter Selbstschutz

Aus dem (Kompetenz-)Konflikt zwischen Partei und Gewerkschaft wurden im links- und rätekommunistischen Milieu Konsequenzen gezogen: Einerseits wurde das Projekt einer Organisationsform gestartet, dass “die Zusammenfassung des Proletariats als Klasse” bewerkstelligen sollte. Andererseits entwickelte sich die Idee einer die wirtschaftlichen und politischen Kämpfe vereinigenden proletarischen Einheitsorganisation.
Diese Debatten um Organisationsmodelle des revolutionär-proletarischen Kampfes nahmen mit der Gründung einer revolutionären Betriebsorganisation, der Allgemeinen Arbeiterunion (AAU), konkrete strukturelle Formen an. Die 1919 gebildete AAU war an die 1920 gegründete “Linksabspaltung” der KPD(Spartakusbund), die Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), angedockt. In den Dokumenten der AAU heißt es zur Konzeption: “Die Betriebsorganisation ist der Anfang zur Gestaltung der besonderen proletarischen Organisation, eben der Räteorganisation (…) Die Betriebsorganisationen als eine Fülle lebendiger Einzelheiten schließen sich zusammen in der Allgemeinen Arbeiter-Union”.
Ohne das wir zu tief einsteigen werden, kann man kurz und knapp festhalten, dass das Verhältnis zwischen der KAPD und der AAU von Beginn an konfliktreich war. Im Grundsatz lief die Kontroverse auf den Punkt zu, inwieweit die AAU eine eigenständige Kraft des proletarischen Klassenkampfes oder nur die betrieblich-wirtschaftliche Sparte der KAPD ist. Innerhalb der KAPD sammelten sich während und kurz nach der Gründungsphase zum Teil diametrale Strömungen: parteiorientierte linkskommunistische Kräfte der Berliner Zentrale, parteiablehnende räte-kommunistische und syndikalistsch orientierte KAPD-Bezirke um Otto Rühle und Franz Pfemfert in Ostsachsen und Nordwestdeutschland sowie nationalbolschewistisch verirrte Kreise um Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg in Hamburg. Dies wirkte auf die gesamte linksoppositionelle Szenerie außerhalb der KPD(S) desorganisierend.
Aufgrund dieser fragilen organisatorischen Situation waren Rückwirkungen auf den Bestand und die Ausrichtung der KAPD/AAU vorprogrammiert. So kam es, wie es kommen musste. Das rätekommunistisch bis syndikalistisch orientierte Klientel in Ostsachsen und in Nordwestdeutschland, das stark von Otto Rühle und der Zeitschrift “Die Aktion” von Franz Pfemfert beeinflusst war, wurde aus der KAPD ausgeschlossen und formierte bereits 1921 mit der AAU-Einheitsorganisation (AAU-E) einen klassenkämpferisch-sozialrevolutionären Verband, der die Spaltung in Partei und Betriebsorganisation aufheben sollte. In den Richtlinien der AAU-E heißt es dazu u.a.: “Die AAU-E ist die politische und wirtschaftliche Einheitsorganisation des revolutionären Proletariats.” Und hinsichtlich der Aufgabenstellung wird ausgeführt, dass “die Zertrümmerung der Gewerkschaften und der politischen Parteien, dieser Haupthindernisse für eine Einigung der proletarischen Klasse und für die Fortentwicklung der sozialen Revolution, die keine Partei- oder Gewerkschaftssache sein kann”, zentral ist.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die diversen Spaltungen und Neuformierungen im links- und rätekommunistischen Sektor der revolutionären Linken aufzuführen; sie sind zahlreich und teilweise wenig nachvollziehbar. Wir wollen von diesen stark verästelten Organisationsgeschichtchen weg und den Blick auf den eigentlichen Punkt einer proletarischen Einheitsorganisation richten, die in der Lage ist, unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie und einer sozialdemokratisierten Partei die klassenautonomen Eigeninteressen wahrzunehmen, die u.a. militant/bewaffnet einzufordern und/oder zu verteidigen sind.
Während die AAU-E offenbar keine explizit bewaffnete Flanke im sozialrevolutionären Kampf vorsah – in einem Rühle-Text werden als Interventionsmethoden “Streik, Generalstreik, passive Renitenz, Sabotage, Betriebsbesetzung” genannt – verzichtet die KAPD/AAU nicht auf die Option des bewaffneten Kampfes. Im KAPD-Programm ist der bewaffnete Selbstschutz integraler Teil der Politik: “Bewaffnung der politisch organisierten revolutionären Arbeiterschaft, Aufstellung von Ortswehren, Bildung einer Roten Armee, Entwaffnung des Bürgertums, der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere, Einwohnerwehren usw.” Hierzu wurde eigens eine sog. Kampforganisation (KO) gebildet, die allerdings mehr auf dem Papier stand, als dass sie nachweislich groß in Aktion getreten wäre. Dennoch wollen wir aus den KO-Statuten zitieren: “Analog der klaren Erkenntnis, dass nur der bewaffnete Aufstand das Proletariat aus der Knechtschaft befreien kann, dass auch andererseits die Reaktion dem Proletariat den Kampf aufzwingen wird, sieht sich das revolutionäre Proletariat gezwungen, eine Organisation zu schaffen, mit deren Hilfe es in der Lage ist, zur gegebenen Stunde als vollwertige Kampftruppe den Kampf aufzunehmen”.
Wir werden in diesen paar Zeilen keine Konzeption einer bewaffneten Massenlinie und Aufstandspolitik ausfertigen können, das wäre auch einigermaßen vermessen und lediglich eine reine Schreibarbeit. Unser Fokus liegt aber darin, aus der Kenntnis vergangener proletarischer Klassenkampfstrukturen, die auch militante und bewaffnete Komponenten integriert haben, mögliche Anknüpfungspunkte herzustellen. “Streik-Aufstand-Revolution” ist eine nicht nur denkbare “Kettenreaktion”, sondern eine durchaus reale Abfolge sozialer Eruptionen.
Gut, belassen wir es fürs Erste dabei. Um einen Übergang zum Abschlusskapitel zu schaffen, wollen wir im Sinne Rosa Luxemburgs auf das wechselhafte Zusammenwirken von wirtschaftlichen und politischen Strängen im praktizierten Klassenkampf (z.B. eines Streiks) nochmals verweisen: “Es gibt nicht zwei verschiedene Klassenkämpfe der Arbeiterklasse, einen ökonomischen und einen politischen, sondern es gibt nur einen Klassenkampf, der gleichzeitig auf die Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Abschaffung der Ausbeutung mitsamt der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet ist”. Das heißt allerdings noch nicht im selben Atemzug, dass die organisatorische Trennung zwischen parteipolitischer und und betrieblich-wirtschaftlicher Formation aufgehoben werden muss.
Die Frage der Partei und die der Betriebsorganisation werden wir an dieser Stelle allerdings nicht weiter vertiefen können. Vielleicht werden wir in einem separaten Beitrag darauf zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen; wichtig ist ein Klärungsprozess der Funktion einer “Partei-Form” im Rahmen eines “komplexen revolutionären Aufbauprozesses” allemal. Denn, was heißt es, sich als “Partei der Insurrektion” (“Aufstandspartei”) zu verstehen, “als Partei zu handeln, sich als Partei zu verhalten”, ohne den “organisatorischen Status” einer Partei bereits vorweisen zu können, wie es die GenossInnen der “Potere Operaio” (Arbeitermacht), des “leninistisch-orientierten” Flügels der italienischen Autonomia, diskutiert haben.

Für einen generalisierten politischen Massenstreik

Die Streikkategorie “generalisierter politischer Massenstreik” ist erst einmal eine begriffliche Neuschöpfung, vielleicht ebenso verwirrend wie aussagekräftig. Allerdings erschließt sie sich aus unserer vorherigen Auseinandersetzung um den sozialen Generalstreik und den politischen Massenstreik, so hoffen wir wenigstens.
Dabei ist der “generalisierte politische Massenstreik” nicht einfach ein semantischer Trick, mit dem beide Streiktypen in einer Wörterkette schlicht zusammengezogen werden. Er ist das Ergebnis unserer bisherigen Diskussion, die davon getragen ist, die eh poröse Trennwand zwischen dem sozialen Generalstreik und dem politischen Massenstreik endlich einzureißen und die offenkundigen Verbindungsstücke zusammen zu stecken, um zu schauen, ob sie auch ineinander passen.
Wenn wir uns den gesamten Text über darum bemüht haben, die teils konstruierten Differenzen zwischen dem sozialen Generalstreik und dem politischen Massenstreik darzustellen, um sie im Gegenzug zu entkräften, so zielten wir besonders gegen die jahrzehntelang einstudierte Abgrenzungsrhetorik, mit der jeweils interessierte Kreise beider Lager die jeweils andere Seite schlecht aussehen lassen wollte. Das ist nicht unser Interesse; zumal sich die früheren, evident erscheinenden Gegensätze heute in der Form nicht mehr zeigen. Falls sie dennoch kultiviert werden sollten, dann trägt man mutwillig vergangene Kämpfe in die Gegenwartszone der Praxis der revolutionären Linken. Das kann uns den Vorwurf einhandeln, dass wir offenkundige Differenzen in der Taktik des revolutionären Kampfes geringschätzen oder gar ausblenden; mag sein, aber unser Ansatz ist es, in dem Spektrum der revolutionären Linken nach augenfälligen Verbindungen und Übereinstimmungen zu suchen, diese herauszuarbeiten sowie in Kampagnen und Projekten zusammen zu kämpfen.
Wir haben die Abschnitte zum sozialen Generalstreik und zum politischen Massenstreik nicht ohne Grund mit der Haltung der sozialdemokratisch-orientierten Gewerkschaftsspitze, die mehrheitlich sicherlich auch der Mitgliederbasis entsprach, eingeleitet. Die blockierende und sabotierende Rolle des Gewerkschaftsapparats hat eine lange Tradition. Aktuell zeigt sich dies z.B. in den drohenden DGB-Ausschlussverfahren gegen oppositionelle IG MetallerInnen bei DaimlerBenz in Stuttgart und Berlin, die mit eigenen Listen zu den Betriebsratswahlen angetreten sind. Vor allem wird anhand dieses Beispiels plastisch, dass selbst non-konforme Basisregungen mit gewerkschaftlich-bürokratischen Sanktionen überzogen werden, die bis zur “Exkommunikation” reichen, also dem Verbandsausschluss als schärfster Waffe gegen verfemte GewerkschafterInnen. Streiks, die an die Substanz von Staat und Kapital gehen, sind nur ohne den herrschsüchtigen DGB-Block zu machen, das kann keinem/keiner mehr verborgen geblieben sein.
Die (künstliche) Trennlinie zwischen der ökonomischen und der politischen Seite des revolutionären Kampfes zerfließt während der Klassenkampfauseinandersetzungen spätestens dann, wenn diese eine gewisse Schärfe angenommen haben; wir haben in diesem Zusammenhang im vorangegangenen Kapitel Rosa Luxemburg bewusst zitiert, die davon sprach, dass “es nur einen Klassenkampf (gibt)”. Der politische Massenstreik, unverkürzt betrachtet und in seiner gesamten Dimension verstanden, ist die Verbindung von politischen und wirtschaftlichen Kämpfen, die Mobilisierung der ökonomischen Macht der proletarischen Massen zum Zwecke der Erreichung eines politischen (End-)Ziels, der Zerschlagung des kapitalistischen Klassenstaats, der Kampf für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Der politische Massenstreik ist demnach in seiner “generalisierten Form” zentraler Ausdruck des proletarisch-revolutionären Kampfes um Klassenautonomie.
Letztmalig zum Mitschreiben: Wir halten weder etwas davon, die typischen Verkürzungen des politischen Massenstreiks auf anarcho-syndikalistischer Seite mitzutragen, noch etwas davon, die demonstrative Ablehnung gegenüber dem sozialen Generalstreik von früh-sozialdemokratischer Seite nachzubeten. Weder das eine noch das andere an gut gepflegter Haarspalterei und Diffamierung wollen wir weitertragen. Es sind vergangene Konfliktlagen, die anfangs sicherlich eine teilweise Begründung fanden, aber für eine aktuelle Auseinandersetzung kaum mehr etwas taugen; außer sich in der Vergangenheit recht gut auszukennen und vor allem dort einzurichten.
Letztlich haben wir mit diesem Text, der in erster Linie als eine Art Erstbeitrag zum Thema “Der Streik als Schlacht” zu lesen ist, versucht klarzumachen, dass für jede klassenkämpferisch-sozialrevolutionäre Theorie allein die Praxis der wahre Maßstab sein kann. D.h., Voraussetzung für einen revolutionären Lernprozess ist in jedem Fall die in die Tiefe gehende tatsächliche Klasse-gegen-Klasse-Stellung, die die Papierform hinter sich gelassen hat.
Wir haben das Feld des sozialen Generalstreiks und politischen Massenstreiks weit aufgerissen, um es von diesem Spatenstich aus weiter zu beackern, wie wir es in der Einleitung skizziert haben. Wir wollen diese Thematik in der kommenden Ausgabe der radikal vertiefen, vor allem praxisnäher und handlungsanleitender behandeln. Versprochen!

radikal-Redaktion

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